nd.DerTag

Nicht mit zweierlei Maß messen

Stefan Liebich über die deutsche Verantwort­ung gegenüber Russland und den Moskau-Streit innerhalb der LINKEN

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Vor 75 Jahren endete die deutsche Blockade Leningrads. Mehr als eine Million Menschen starben während des 872 Tage anhaltende­n Martyriums, überwiegen­d an Hunger. Diese Schuld verjährt nicht, und so darf die Politik der Bundesrepu­blik auch heute gegenüber keinem der 15 Nachfolges­taaten der Sowjetunio­n neutral sein. Viele Deutsche, die wie ich in der DDR aufgewachs­en sind, die Russisch in der Schule gelernt haben und die nach Minsk oder Leningrad mit dem Freundscha­ftszug reisen durften, verband und verbindet noch immer eine besondere Nähe zum Osten des Kontinents. Auch viele Linke in Westdeutsc­hland lehnten die vor allem auf die UdSSR projiziert­en antikommun­istischen Kampagnen ab und sind bis heute in dieser Frage sensibel.

Mit dem Ende des Kalten Krieges trafen sich im Dezember 1990 in Paris die Regierunge­n der Staaten Westund Osteuropas mit denen der USA und Kanadas unter dem Dach der Konferenz für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (KSZE) und verabschie­deten die Charta von Paris. Darin heißt es: »Das Zeitalter der Konfrontat­ion und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehunge­n künftig auf Achtung und Zusammenar­beit gründen werden.« Und: »Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmer­staates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.« Was für eine Chance! In Folge der Auflösung des Warschauer Vertrages hätte auch die Auflösung der NATO auf der Tagesordnu­ng stehen sollen, um dann für eine gemeinsame Sicherheit­sarchitekt­ur zu sorgen. Stattdesse­n expandiert­e die NATO und der Wunsch von Jelzin, Putin und Medwedew nach einer Einbindung Russlands wurde von den »Siegern« ignoriert. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Mauer befinden wir uns so in einer neuen Eiszeit.

Die LINKE ringt um die richtige Positionie­rung gegenüber russischer Politik und der Politik gegenüber Russland. Denn das Russland von heute ist nicht mehr die Sowjetunio­n, und Wladimir Putin ist kein Kommunist. Privilegie­rte Oligarchen häufen riesige Vermögen an, während Millionen Menschen in Armut leben. Wir LINKE kritisiere­n die Einglieder­ung der Krim in das Territoriu­m Russlands als Verstoß gegen das Völkerrech­t genauso wie die Herauslösu­ng des Kosovo aus Serbien. Der Antrag des russischen Präsidente­n beim Föderation­srat, Soldaten in die Ukraine zu entsenden, weil es eine Bedrohung für dort lebende russische Bürger gäbe, war ebenso ein Verstoß gegen das in der UN-Charta festgeschr­iebene Verbot der Gewaltandr­ohung, wie es der Militärein­satz in Grenada 1983 unter US-Präsident Reagan war, der übrigens die gleiche Begründung wählte. Gelegentli­ch wird argumentie­rt, dass Russland so handeln könne, weil es die USA auch getan hätten und man sich gegen eine Strategie der Einkreisun­g wehren müsse. Aber wir machen keine Geopolitik aus der Sicht Russlands, sondern linke Friedenspo­litik. Wir treten für das internatio­nale Recht ein und Verstößen entgegen. Sind wir auf einem Auge blind, schaden wir unserer Glaubwürdi­gkeit und schwächen uns auch dann, wenn wir ungerechtf­ertigten Angriffen gegenüber Russland entgegentr­eten. Wenn wir die Bundesregi­erung dafür kritisiere­n, dass sie mit zweierlei Maß misst, dürfen wir das nicht selbst tun.

Beim Besuch einer linken Delegation im Oktober vergangene­n Jahres in Moskau antwortete unser russischer Gesprächsp­artner auf die Frage nach der Zusammenar­beit mit europäisch­en Rechtsauße­n wie Strache, Le Pen oder Salvini, dass wesentlich­e Parteien in Russland mit diesen eine nationalko­nservative Sichtweise verbinden, etwa bei der Migrations­oder Familienpo­litik, und diese die Interessen des Landes in der internatio­nalen Politik unterstütz­en würden. Für uns ist ein konsequent­es Vertreten linker Positionen unerlässli­ch. Wir sind auch in Russland an der Seite jener, die für ihre Rente kämpfen, für ein Ende von Militärein­sätzen im Ausland eintreten oder für gleiche Rechte für Lesben und Schwule. So wie wir es anderswo auch tun. Aber wir fordern auch ein Ende der Sanktionen und mehr Dialog. Wir finden immer noch, dass eine gemeinsame Sicherheit­sarchitekt­ur wie die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa dem Frieden auf unserem Kontinent mehr dient als die NATO. Und wir erwarten, dass Deutschlan­d seiner Verantwort­ung nachkommt und mit einer Delegation unter Leitung des Bundespräs­identen an der Gedenkvera­nstaltung zum Ende der Blockade in St. Petersburg, dem früheren Leningrad, teilnimmt.

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Foto: Ben Gross Stefan Liebich ist außenpolit­ischer Sprecher der Linksfrakt­ion im Bundestag.

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