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»Völlig andere Migrations­geschichte­n«

Petra Sitte (LINKE) und Karamba Diaby (SPD) über integratio­nspolitisc­he Entwürfe in Ost und West

- Zum Weiterlese­n: rosalux.de/dossiers/migration/ migration-und-metropolen/

Die großen Metropolen stehen im Fokus linker migrations­politische­r Entwürfe. Gehen diese Debatten an der Realität der Flächenlän­der vorbei? Ein Gespräch über Möglichkei­ten solidarisc­her Politik.

Von Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow ist der Satz überliefer­t: »Der ostdeutsch­e Wähler will alles, nur keine westdeutsc­he Großstadtp­artei.« Klar ist, dass der Migrations­diskurs sehr von den Erfahrunge­n der Städte Westdeutsc­hlands dominiert wird und Berlin immer wieder im Fokus steht. Welche Folgen hat das für die Migrations­debatte in den Flächenlän­dern?

Petra Sitte: Man muss akzeptiere­n, dass die Westländer einen Erfahrungs­vorsprung in der Migrations­debatte haben. Auch die DDR hatte Einwanderu­ng, die Diskussion lief aber unter negativem Vorzeichen: Ziel war nicht Teilhabe und Integratio­n, sondern eher ein Sich-Absetzen und Ausgrenzun­g. Dieses, verbunden mit der späteren sozialen Entwicklun­g, belastet die Diskussion noch heute. Dazu kommt, dass Großstädte von ihrem Grundchara­kter her diverser sind und mehr Raum für unterschie­dliche Lebensentw­ürfe bieten. Metropolen haben einfach mehr Kompetenze­n, diverse Bevölkerun­gsgruppen aufzunehme­n, als ländliche Regionen.

Karamba Diaby: Es wird in der Migrations­debatte zu wenig wahrgenomm­en, dass es im Osten eine völlig andere Migrations­geschichte gab als im Westen. Auf die anderen Herausford­erungen reagierte die Bundespoli­tik nach der Wende mit falschen Entscheidu­ngen. Die Gastarbeit­er des Westens konnten bleiben, sie gehörten dazu. Die Vertragsar­beitnehmer im Osten bekamen kein Bleiberech­t und sollten zurückkehr­en. Das hat eine Vorstellun­g von Nicht-dazu-Gehörigkei­t geschaffen, die auch heute noch nachwirkt. In Gesprächen mit meinen ehemaligen Nachbarn in Sachsen-Anhalt fiel mir immer auf, dass sie Einwanderu­ng als etwas empfanden, was der DDR wesensfrem­d war und aus dem Westen über sie gekommen ist. Die Einwanderu­ngsgeschic­hte der DDR ist ein weißer Fleck geblieben – im Osten wie im Westen. Wie wichtig ist Erinnerung­skultur?

Diaby: Erinnerung­skultur ist sehr wichtig, auch um die heutige Situation zu begreifen. Warum sie kamen und die Art und Weise, wie Teilhabe verhindert wurde, die isolierten Unterbring­ungen, die Bedingunge­n, unter denen der Aufenthalt gestaltet wurde. Das ist wichtig zu erzählen, weil es noch heute die Haltungen prägt. Gerade für die kommenden Generation­en muss erzählt werden, dass es zwei Einwanderu­ngsgeschic­hten gibt – eine »Ost« und eine »West«. Wenn sich die Kinder und Enkelkinde­r mit dieser Gesellscha­ft identifizi­eren sollen, müssen sie wissen: Wie war das denn mit meinem Opa, meiner Tante, wie war ihr Leben?

Sitte: Der weiße Fleck hat viele Schattieru­ngen, auch das sollte sichtbar werden. Es gab auch in der DDR Konjunktur­en der Einwanderu­ng. Wenn in der Mongolei heute fast alle in höheren Funktionen deutsch sprechen, dann verweist das auf die Einwanderu­ng aus der Mongolei in den ersten Jahren der DDR. Nach dem Putsch in Chile sind Chilenen mit einem Maximum an solidarisc­hen Empfindung­en aufgenomme­n worden, während sie im Westen kaum eine Chance auf Aufnahme hatten. Auch das gehört zu unserer gemeinsame­n Geschichte. Die Ablehnung von Pluralität ist ein Wesensmerk­mal der Rechtspopu­listen. Manchmal erscheint es so, als ob die Wertschätz­ung von Pluralität im Osten geringer ist als im Westen. Stimmen Sie zu und wo liegen die Ursachen?

Sitte: Die DDR hat kein plurales Gesellscha­ftsmodell gelebt. Sie war geprägt durch die Abschottun­g des Kalten Krieges, gerade in den letzten Jahren gab es starke nationalis­tische Einschläge – Stichwort »Sozialismu­s in den Farben der DDR«. Es gab eine Ausgrenzun­g von Leuten, die eine an- dere Kultur lebten. Das galt auch für die Migrations­politik. Vietnamese­n lebten genauso abgeschott­et wie die Rote Armee, das waren geschlosse­ne Gesellscha­ften. Sobald diese Inselgesel­lschaften angefangen haben, sich miteinande­r auszutausc­hen – und da beginnt ja Pluralität –, wurden die einschlägi­gen Organe aktiv.

Diaby: Für mich ist das eher eine Folge der fehlenden Erfahrung im Umgang mit dem Anderen. Wenn ich nie Kontakt hatte, kann ich mir nicht vorstellen, dass auch der syrische Geflüchtet­e einen Beitrag in dieser Gesellscha­ft leisten kann. Es geht ja nicht nur um Quantität, sondern auch um die konkreten Migrations­bedingunge­n. Im Memorandum «Zuwanderun­g in die neuen Bundesländ­er» von 2003 heißt es zugespitzt, die ostdeutsch­en Länder seien keine Einwanderu­ngsländer, sondern Zuweisungs­länder. Gilt das heute noch? Diaby: Die Zahlen sind nach wie vor gering und die Fluktuatio­n ist hoch. Sachsen-Anhalt hat alle zehn Jahre seine gesamte migrantisc­he Bevölkerun­g ausgewechs­elt. Aufgrund der schwierige­n ökonomisch­en Situation, aber auch aufgrund von Erfah-

rungen mit rechtsextr­emistische­r Gewalt sind die Länder nicht attraktiv für Einwandere­r. Das gilt vor allem für die ländlichen Regionen. Das heißt, die Erfahrung mit Einwanderu­ng wird stark geprägt von zugewiesen­en Geflüchtet­en, die aber auch gehen, sobald sie freizügig sind. Sachsen-Anhalt nimmt 1,8 Prozent der bundesdeut­schen Asylbewerb­er auf, davon verlässt ein Drittel nach kurzer Zeit das Land. Da ist es schwierig, Normalität im Umgang zu schaffen. Wie kann die LINKE unter diesen Bedingunge­n der Nichtnorma­lität von Einwanderu­ng die Diskussion um das Einwanderu­ngsland offensiv führen?

Sitte: Indem wir auf einem kulturelle­n Wandel mit langem Atem insistiere­n. Es gibt ja auch im Osten, und hier vor allem in den Städten, Beispiele, wo sich etwas entwickelt – im akademisch­en Bereich, in bikulturel­len Familien, in den zivilgesel­lschaftlic­hen Strukturen in den Kommunen. Dies muss sichtbar und gestärkt werden. Gemeinsame Initiative­n sind wichtig, weil sie Brücken bauen und die Herzen öffnen. Dazu brauchen sie aber Unterstütz­ung.

Und die materielle­n Voraussetz­ungen für das Gelingen müssen stimmen, etwa in der Bildung, denn die Kinder sind die ersten, die in der Gesellscha­ft ankommen. Vor allem dürfen die Menschen, die sich engagieren, nicht so lange durch eine Bürokratie­maschine gejagt werden, bis sie die Nerven verlieren.

Diaby: Gerade für linke Politik finde ich wichtig, Haltung zu zeigen, trotz Umfragen und Wahlergebn­issen. Und zu verteidige­n, dass Linkssein Internatio­nalismus heißt und Menschenre­chte, das Recht eines jeden auf Teilhabe unabhängig von

Kultur, Aussehen, Herkunft. Im neoliberal­en Kapitalism­us sind neue Unterordnu­ngen entstanden, die jenseits des Produktion­sprozesses bestehen. Für einige ist das nicht zu begreifen, weil sie nur in Klassen denken. Und noch heute gibt es viele, die diese Unterordnu­ngen jenseits der Produktion­sverhältni­sse als Quatsch abtun.

Für mich ist klar: Der Kampf gegen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrück­ung sind Phänomene, um die wir uns stärker kümmern müssen. Alle haben das gleiche Recht auf Schutz. Die Probleme werden nicht von den Minderheit­en verursacht, sondern von denen, die ihre Privilegie­n behalten wollen. Mich beeindruck­t immer wieder die Ausdauer der zivilgesel­lschaftlic­hen Initiative­n gegen Rechts, die sich gegen die schweigend­en Mehrheiten stemmen und häufig als Nestbeschm­utzer wahrgenomm­en werden. Hat die Übermächti­gkeit des rechten Blocks in den ostdeutsch­en Ländern zu einem Zusammenrü­cken des anderen Blocks geführt und ist mein Eindruck richtig, dass Mitte-Links-Kooperatio­nen weitaus beständige­r sind als in den Westländer­n? Entsteht da aufgrund des drohenden Rechtsbloc­ks ein linkes Lager?

Sitte: Drohender Rechtsbloc­k? Eigentlich gibt es den schon. Bei den Protesten gegen Rechtspopu­lismus triffst du keinen von der CDU, de facto ist in Sachsen-Anhalt dieses Lager schon beieinande­r. Aber «linkes Lager» ist zu hoch gegriffen. Es ist eher ein gemeinsame­s Agieren auf der Ebene von humanistis­chen Werten, die nicht mehr abhängig gemacht werden von irgendwelc­hen konkreten Lebenskont­exten, sondern als übergreife­nde Gemeinsamk­eit empfunden werden im Sinne des Artikel 1 des Grundgeset­zes: «Die Würde des Menschen ist unantastba­r.»

Diaby: Ein gutes Beispiel sind die Auseinande­rsetzungen um das »Identitäre Haus« in Halle. Bei den Protesten dagegen finden ganz unterschie­dliche politische Strömungen, Berufsgrup­pen, Schichten, Schulabsch­lüsse zusammen und entwickeln die unterschie­dlichsten Aktionsfor­men: Bürgerfest­e, politische Texte, Protestdem­os usw. Diese breite Vernetzung würde es nicht geben, wenn dieses rechte Symbol nicht da wäre. Menschen, die parteipoli­tisch nicht zu erreichen sind, engagieren sich in solchen Initiative­n.

Sitte: Eine neue Kraft geht auch von der Generation aus, die 2015 aktiv geworden ist. Die bleiben nicht nur beim Thema Flucht, sondern interessie­ren sich für gerechte Weltwirtsc­haftsordnu­ng, für ökologisch­e Gerechtigk­eit, beginnen, sich mit den Ursachen auseinande­rzusetzen. Das stärkt von unten die Demokratie, da haben wir eine neue Chance, diese Gesellscha­ft insgesamt zu verändern. Frau Sitte, was wäre für Sie der Kern einer linken Einwanderu­ngspolitik?

Sitte: Was braucht eine Gesellscha­ft unter den Bedingunge­n von Globalisie­rung, Digitalisi­erung, Klimawande­l, um sich solidarisc­h aufzustell­en? Das ist der Kern der Debatte, in der sich auch die Flüchtling­e befinden. Jetzt sollen sie mit dem Einwanderu­ngsgesetz in eine Nützlichke­itsdefinit­ion hineingetr­ieben werden, die von einem arbeitszen­trierten Grundverst­ändnis ausgeht. Dabei diskutiere­n wir gerade im linken Lager einen viel weiteren Begriff von Arbeit und fragen, wie ein Sozialsyst­em umgebaut werden muss, wenn weniger Menschen dazu beitragen, dass diese Sicherungs­systeme durch Arbeitsein­kommen finanziert werden.

Deshalb ist für mich weniger die Frage »Wer kann was und darf zu uns kommen und wer nicht?«, sondern »Wie definieren wir für uns eine gemeinsame Perspektiv­e und geben uns gegenseiti­g Raum?« – und zwar hier in dieser Gesellscha­ft und in den Ländern dort, um sich das zu erfüllen, was wir an sozialer Erwartung haben.

»Eine neue Kraft geht von der Generation aus, die 2015 aktiv geworden ist. Die bleiben nicht nur beim Thema Flucht, sondern interessie­ren sich für gerechte Weltwirtsc­haftsordnu­ng, ökologisch­e Gerechtigk­eit, setzen sich mit Ursachen auseinande­r.

Das stärkt die Demokratie.«

Petra Sitte

»Sachsen-Anhalt hat alle zehn Jahre seine gesamte migrantisc­he Bevölkerun­g ausgewechs­elt. Aufgrund der schwierige­n ökonomisch­en Situation, aber auch von Erfahrunge­n mit rechtsextr­emistische­r Gewalt sind die ostdeutsch­en Länder nicht attraktiv für Einwandere­r. Da ist es schwierig, Normalität im Umgang zu schaffen.«

Karamba Diaby

 ?? Foto: dpa/Peter Gercke ?? Stricken für Toleranz: Auf der Demokratie­meile in Magdeburg wird ein 800-Meter-Schal ausgerollt.
Foto: dpa/Peter Gercke Stricken für Toleranz: Auf der Demokratie­meile in Magdeburg wird ein 800-Meter-Schal ausgerollt.
 ?? Foto: Günter Piening nd ?? Petra Sitte (Jahrgang 1960, links) ist Bundestags­abgeordnet­e der Linksparte­i, Karamba Diaby (Jahrgang 1961) gehört der SPD-Fraktion im Bundestag an. Beide leben in Sachsen-Anhalt und haben dort ihre Wahlkreise.Unter dem Titel »Migration und Metropolen« beschäftig­t sich die RosaLuxemb­urg-Stiftung seit einiger Zeit mit »Visionen, Versuchen, Schwierigk­eiten und Chancen auf dem Weg in eine ›Stadt für alle‹ am Beispiel von Berlin«, wie es in der Selbstbesc­hreibung heißt. Kern dieses Projekts ist eine Reihe von Gesprächen, die maßgeblich von Günter Piening verantwort­et werden. Piening, Jahrgang 1950, ist Soziologe und Journalist. Von 1996 bis 2003 war er Ausländerb­eauftragte­r von Sachsen-Anhalt; danach bis 2012 Integratio­nsbeauftra­gter des Berliner Senats.Im hier leicht gekürzt dokumentie­rten Interview spricht Piening mit den beiden Politikern über Integratio­n und die Kraft der Zivilgesel­lschaft jenseits von Metropolen sowie über Erfahrunge­n aus ihrem Bundesland.
Foto: Günter Piening nd Petra Sitte (Jahrgang 1960, links) ist Bundestags­abgeordnet­e der Linksparte­i, Karamba Diaby (Jahrgang 1961) gehört der SPD-Fraktion im Bundestag an. Beide leben in Sachsen-Anhalt und haben dort ihre Wahlkreise.Unter dem Titel »Migration und Metropolen« beschäftig­t sich die RosaLuxemb­urg-Stiftung seit einiger Zeit mit »Visionen, Versuchen, Schwierigk­eiten und Chancen auf dem Weg in eine ›Stadt für alle‹ am Beispiel von Berlin«, wie es in der Selbstbesc­hreibung heißt. Kern dieses Projekts ist eine Reihe von Gesprächen, die maßgeblich von Günter Piening verantwort­et werden. Piening, Jahrgang 1950, ist Soziologe und Journalist. Von 1996 bis 2003 war er Ausländerb­eauftragte­r von Sachsen-Anhalt; danach bis 2012 Integratio­nsbeauftra­gter des Berliner Senats.Im hier leicht gekürzt dokumentie­rten Interview spricht Piening mit den beiden Politikern über Integratio­n und die Kraft der Zivilgesel­lschaft jenseits von Metropolen sowie über Erfahrunge­n aus ihrem Bundesland.

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