»Das war alles«
Robert Menasse erhält die Carl-Zuckmayer-Medaille 2019 – trotz alledem!
Nun hat die Aufregung in den hiesigen Feuilletons hoffentlich ein Ende. Er bekommt sie doch! Von Robert Menasse ist die Rede und der Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille an ihn. »Robert Menasse hat sich große Verdienste um die deutsche Sprache erworben, er hat in den vergangenen Jahren ein beeindruckendes literarisches Gesamtwerk geschaffen, für das er zu Recht große Anerkennung erhält.« Das ist ein Teil aus der Begründung, warum Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), nach Gesprächen mit dem Kulturminister Professor Konrad Wolf, Kommissionsmitgliedern und Robert Menasse selbst, an der höchsten literarischen Auszeichnung des Landes Rheinland-Pfalz festhält.
Sie ist »froh, dass Robert Menasse heute den Fehler eingeräumt hat«, keine Trennung zwischen literarischem Raum und politischer Debatte vorgenommen zu haben. Das teilte Dreyer am Montag in ihrer Presseerklärung in Mainz mit. Der Fehler: die Zitate, die Menasse der historischen Figur Walter Hallstein (1901 – 1982), einstiger Mainzer CDU-Politiker, in seinem »Manifest für eine Europäische Republik« (2013) zuschreibt, hier etwa die Aussage, die Abschaffung der Nation sei die europäische Idee. Das soll Hallstein im Jahre 1958 gesagt haben, anlässlich seiner Antrittsrede als erster Präsident der EWG. Und zwar auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz! Das wiederum erzählt uns eine literarische Figur, genauer gesagt Martin Susman. Beides ist von Historikern glaubwürdig widerlegt worden. So existiert weder das Hallstein zugeschriebene Zitat »die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee«, noch gab es je eine Rede von Hallstein in Auschwitz.
Robert Menasse ist ein leidenschaftlicher porte-parole der europäischen Idee. Oder, wie es die Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Deutschlandfunk formuliert: Diese ist »Menasses Herzensanliegen«. Doch muss er dafür Legenden erfinden? Mitnichten. Löffler hat recht, wenn sie die Empörung im deutschsprachigen Feuilleton für unverhältnismäßig hält.
Indes trug der Deutsche Buchpreisträger auch selbst zur Aufregung bei. Wenn Menasse mal trotzig, mal selbstherrlich zu seiner Verteidigung vorbrachte, er sei schließlich kein Wissenschaftler oder Journalist, sondern Dichter, und dürfe deswegen Zitate erfinden. Oder: »Was kümmert mich das Wörtliche, wenn es mir um den Sinn geht?« Außerdem greift seine Argumentation nicht tief genug, schließlich behauptete Menasse selbst in Interviews, Essays oder Lesungen, Hallstein habe diese Dinge tatsächlich gesagt. Dito, die fiktive Antrittsrede von Hallstein in Auschwitz in diesem »großen satirischen Roman« (Löffler) stand stets in Verbindung mit den Aussagen Menasses außerhalb des fiktionalen Raums! Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind fließend. Die Verwirrung ist groß. Das ist verständlich, aber in der Tat übertrieben. Zudem: Warum erst jetzt die große Aufregung, wenn doch schon im Oktober 2017 der Historiker Heinrich August Winkler auf die erfundenen Zitate aufmerksam machte? Vielleicht, weil es damals nicht so wichtig erschien? Eine Parallele zum Claas-Relotius-Skandal zu ziehen, ist absurd, scheint indes bei vielen der Beweggrund dafür zu sein.
Malu Dreyer (SPD) erntete für die Entscheidung, am 18. Januar Robert Menasse die Carl Zuckmayer-Medaille in Mainz zu verleihen, selbstverständlich Kritik. Auch der Vorwurf, die Entscheidung könne politisch motiviert sein, ist nicht von der Hand zu weisen. »Sein engagiertes Streiten für die europäische Idee trifft europaweit auf große Resonanz und hat die politische Debatte um die Zukunft der Europäischen Union sehr bereichert«, heißt es in der Presseerklärung. Ja, der Roman »Die Hauptstadt« wirbt für die europäische Kom- mission, aber Menasse macht daraus keine Propagandaliteratur, weder in diesem noch in anderen Werken, für die er mit diesem Preis geehrt wird.
Am Montag räumte Menasse ein: »Es war ein Fehler von mir, Walter Hallstein in öffentlichen Äußerungen und nicht-fiktionalen Texten Zitate zuzuschreiben, die er wörtlich so nicht gesagt hat. Es war unüberlegt, dass ich im Vertrauen auf Hörensagen die Antrittsrede von Hallstein in Auschwitz verortet habe. Diese hat dort nicht stattgefunden. Das hätte ich überprüfen müssen. Ich habe diese Fehler nicht absichtsvoll und nicht mit dem Ziel der Täuschung begangen.« Man kann die Entschuldigung akzeptieren und sie zum Anlass nehmen, in den Feuilletons die Debatte über die Rolle der Literatur als künstlerisches Werk oder Spiegel der Realität wieder einmal aufzunehmen.
»Das war alles«, würde Menasses Romanfigur David de Vriend jetzt wohl sagen, der pensionierte jüdische Lehrer und einer der letzten Auschwitz-Überlebenden. »Die einzig legitime Zusammenfassung von jedem Moment oder Abschnitt seines Lebens.«
Hatte es Menasse nötig, für sein Herzensanliegen, die europäische Idee, eine Legende erfinden zu müssen?