Der Gottesmutter am Schleier gezupft
Die Alte Pinakothek in München feiert den Bilderboom der florentinischen Renaissance
Banken haben normalerweise nichts zu verschenken. Aber sie tun gerne so. In dieser Hinsicht sorgte Sandro Botticelli mit seiner »Anbetung des Kindes durch die Heiligen Drei Könige« für die perfekte PR-Aktion. Verlieh er doch den morgenländischen Gabenbringern die Züge von Angehörigen des Medici-Clans. Mit ihren Geldgeschäften war die toskanische Dynastie zur einflussreichsten Institution in Italien der frühen Neuzeit aufgestiegen.
Die Uffizien in Florenz, wo das Krippenspiel mit Frühkapitalisten sonst hängt, haben die um 1475 entstandene Tafel nun auf die andere Seite der Alpen geschickt. In Münchens Alter Pinakothek fungiert Botticellis Dreikönigstheater als Aufmacherbild einer prachtvollen Themenschau über die Stadt am Arno und die Epoche, die von dort ihren Ausgang nahm: die Renaissance. Im Zeichen einer wiedergeborenen Antike erfand der Mensch sich neu. Als modernes Individuum, das seine Stellung in der Welt auch gerne nach außen trug. Und genau dabei waren ihm die Maler und Bildhauer behilflich. Nicht zufällig liegt ein Fokus der von Andreas Schumacher kuratierten Schau auf dem Porträt. Hier vor allem zeigten die Florentiner, wer sie waren.
Und staunend stellt der Besucher in München fest: Die Zeit hat ihnen nichts anhaben können. Weder Filippino Lippis Lockenjüngling mit den weichen Lippen noch der vornehmschlichten Grazie, die Domenico Ghirlandaio 1490 verewigte, noch all den anderen, oft namenlosen jungen Männern und Frauen aus vornehmen Florentiner Familien. Von den dunkelblau getünchten Wänden im neuen Sonderausstellungsbereich der Pinakothek leuchten ihre Gesichter so lebensfrisch wie vor 600 Jahren in unsere Gegenwart hinein. Das kostbare Geschmeide, der edle Brokat der Gewänder und die elfenbeinfarbene Haut mit dem zarten Pfirsichhauch auf den Wangen – alles zum Greifen nah.
Es war ein Paradigmenwechsel vom Jenseits zum Diesseits. Die Dinge, die das Mittelalter vergeistigt hatte, wurden nun virtuell tastbar gemacht. Dank optimierter Techniken wie der aus Flandern importierten Ölmalerei, dank auch der Zentralperspektive, die den Räumen Tiefe und allem, was sich darin befand, Volumen verlieh. Die durch den Textilhandel reich gewordene Stadtrepu- blik Florenz erlebte einen regelrechten Bilderboom. Existierten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts 50 Malerwerkstätten am Arno, waren es knapp fünfzig Jahre später schon 90.
Neben dem Klerus hatten sich die ökonomisch erstarkten Patrizier als neue Käuferschicht etabliert. Ihren Interessen folgend entstanden neue Gemäldetypen wie eben das Porträt oder die mythologische Historie. Verkaufsschlager blieben gleichwohl christliche Motive, nun aber in Gestalt des privaten Andachtsbildes für die Palazzi.
Wenngleich »Florenz und seine Maler«, so der Titel der Ausstellung, nicht dem monotonen Takt der Chronologie folgt, so schält sich mit Künstlern der Übergangszeit wie Giotto oder Agnolo Gaddi dennoch der Stufenweg zur Renaissance heraus. Leuchtende Goldgründe stehen noch in gotisch-byzantinischer Tradition, doch die Kulissenarchitekturen sind bereits perspektivisch angelegt, die Gewänder strotzen vor Plastizität. Und Giottos »Letztes Abendmahl« aus dem frühen 14. Jahrhundert ist mit seiner agilen Interaktion der Blicke und Gesten keine tote Versammlung mehr, sondern eine dramatisch bewegte Tischrunde.
Von den Uffizien über das Londoner British Museum bis zur National Gallery in Washington haben namhafte Institutionen den Münchenern Werke zur Verfügung gestellt. Zu den 90 Leihgaben kommen noch einmal 30 Exponate aus eigenem Fundus. Dank Ludwig I., dessen italophile Kunst- und Baupolitik einst das isarflorentinische Image der bayerischen Hauptstadt begründete, verfügt die Alte Pinakothek selbst über eine reiche Renaissance-Sammlung.
Ob Museumsstars wie Botticelli und Leonardo da Vinci oder Helden der zweiten Reihe wie Lorenzo di Credi – was in der Schau zusammenkommt, wird so nie wieder zusammenkommen. Etwa Fra Angelicos Erzählfolge aus dem Leben der heiligen Cosmas und Damian. Um 1440 geschaffen für San Marco in Florenz, haben die Zeitläufte das Altarensemble auf mehrere Besitzer verteilt.
Bei alldem wird neben der Kunst auch der Alltag der Künstler anschaulich. Nicht zufällig steht am Beginn des Parcours Maso Finiguerras unscheinbares Blättchen mit einem zeichnenden Jungen. Stift und Feder, nicht Pinsel und Farbe, waren die wichtigsten Arbeitsgeräte in den Ate- liers. Als Grundlagendisziplin verband die Griffelkunst alle kreativen Professionen: Malerei, Skulptur und Architektur. Jede Schöpfung nahm zuerst als Skizze auf dem Zeichenblock Gestalt an, weswegen ein Künstler, bevor er selbst an die Leinwand durfte, in einer bis zu neunjährigen Lehrzeit die Werke seines Meisters mit dem Stift kopieren musste.
Schnell und leicht wie Traubenzucker geht einem der sinnliche Zauber der Florentiner Gala ins Blut über. Warum bloß vermag es diese Kunst, die Menschen des 21. Jahrhunderts, egal ob Laie oder Kenner, so direkt anzusprechen? Vielleicht, weil die Medici-Metropole um 1400 Maßstäbe in puncto Körperschönheit gesetzt hat, die bis heute weitergelten. Selbst bei der christlichen Gottesmutter interessierten vor allem die weiblichen Reize. Den Münchener Eigenbesitz der »Nelken-Madonna« von Leonardo da Vinci charakterisieren ein harmonisches Gesichtsoval, fast unverschleierte Haarpracht und feingliedrige Hände im Gestenspiel mit dem Christusknaben. Auch der Baby-Jesus fängt in der Renaissance erstmals an, wie ein echtes Kleinkind auszusehen. Und sich so zu verhalten. In Andrea della Robbias Terrakotta-Relief (zwischen 1475 und 1495) zupft der Junge seiner Mutter frech am Kopftuch. Als wolle er es herunterreißen und ausrufen: »Schaut her, so hübsch ist meine Mama!« Aber nicht nur sie. Eine Sache nämlich verband die Madonnen der Renaissance mit den schönen Töchtern der MediciStadt: Sie alle waren Göttinnen einer neuen Religion, der Daseinslust. Bella Italia!
Auch der Baby-Jesus fängt in der Renaissance erstmals an, wie ein echtes Kleinkind auszusehen.