nd.DerTag

Stell dir vor, es ist Streik ...

Netzwoche

- Von Vanessa Fischer

... und keine*r kriegt es mit. In Indien könnte sich in dieser Woche der größte Streik in der Geschichte der Menschheit ereignet haben – 200 Millionen Beschäftig­te sollen dort nach Angaben von Gewerkscha­ften am Dienstag und Mittwoch ihre Arbeit niedergele­gt haben. Insgesamt zehn Gewerkscha­ften hatten dazu aufgerufen. In Bildungsei­nrichtunge­n war es ebenso zu Komplett- ausfällen gekommen wie bei der Bahn, im Banken- und im Postwesen. Davon können die Vorsitzend­en der zwei größten deutschen Gewerkscha­ften, Frank Bsirske (ver.di) und Jörg Hofmann (IG Metall), wohl nur träumen. Dennoch, die mutmaßlich­e Sensation blieb von den deutschen Medien weitestgeh­end unbemerkt.

Das mag auch daran gelegen haben, dass keine der großen Nachrichte­nagenturen über die Streiks in Indien berichtete. Da Zeitungen aber nicht mehr über ein weltweites Netz von Korrespond­ent*innen verfügen, stützen sie sich für ihre Auslandsbe­richtersta­ttung meist auf Meldungen der Nachrichte­nagenturen. Deren Korrespond­ent*innen recherchie­ren vor Ort und geben die gesammelte­n Informatio­nen möglichst neutral an die Kunden in Deutschlan­d weiter, die dafür bezahlen. So werden die The- men, die in den Medien erscheinen, also in gewissem Maß auch von den Agenturen mitbestimm­t: Themen, die nicht von ihnen aufgegriff­en werden, schaffen es letztendli­ch oft auch nicht in deutsche Medien. Auf Nachfrage erklärte ein Vertreter der größten deutschen

am Mittwoch dem nd, sie habe nicht über den Streik berichtet, da die Zahl der Streikende­n für sie nicht verifizier­bar gewesen sei. Daneben sei es weder zu größeren Ausschreit­ungen noch zu Todesfälle­n gekommen, der Generalstr­eik daher als irrelevant erachtet worden.

Indien ist riesig, und die Streiks fanden in mehreren Städten im ganzen Land statt. Sicher war es nicht die Aufgabe der Nachrichte­nagenturen, die Millionen von Menschen selbst zu zählen, die in den vergangene­n zwei Tagen auf den Straßen waren. Bisher war es aber gängige journalist­ische Praxis, sich in Berichten auf die von den Gewerkscha­ften oder der Polizei verkündete­n Zahlen zu berufen. Das ist auch der Fall, wenn über Generalstr­eiks in Frankreich oder Griechenla­nd berichtet wird. Beides sind Staaten, die häufig mit einer gut funktionie­renden Gewerkscha­ftsbewegun­gen in Verbindung gebracht werden. In der westlichen Medienberi­chterstatt­ung taucht Indien bei dem Thema dagegen nur selten auf.

Wird über das zweitbevöl­kerungsrei­chste Land der Erde berichtet, dann vor allem über die dort herrschend­e Armut, soziale Ungleichhe­it, katastroph­ale Umweltvers­chmutzung und Gewalt gegen Frauen. Anfang 2013 war eine Gruppenver­gewaltigun­g in Delhi wochenlang in den deutschen Schlagzeil­en. Bei findet die Suchmaschi­ne unter den Schlagwört­ern »Indien« und »Vergewalti­gung« ganze 367 Artikel. Vor einigen Tagen erst stießen die Proteste

agentur (dpa) Nachrichte­n- »Spiegel Online«

gegen den Tempelbesu­ch von zwei Frauen auf großes mediales Interesse. Alle einschlägi­gen Nachrichte­nagenturen berichtete­n darüber, es gab Artikel in den meisten Lokal- und Tageszeitu­ngen der Republik. Am Donnerstag dann, einen Tag nach den Streiks in Indien, veröffentl­icht die Südasien-Redaktion der dpa doch einen Bericht: In Nepal ist eine Frau verbrannt, die wegen ihrer Monatsblut­ung aus dem Haus ihrer Familie verbannt worden war.

Natürlich ist es wichtig, über patriarcha­le Strukturen und sexualisie­rte Gewalt zu berichten. In der Medienwiss­enschaft wird aber auch immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Auswahl von Themen sowie deren Einordnung und welche Relevanz ihnen zugemessen wird, einem gewissen »Bias« – einer Art Verzerrung oder Voreingeno­mmenheit – unterliegt.

In Bezug auf den Globalen Süden erklären postkoloni­ale Theoretike­r*innen wie Edward Said diese Verzerrung anhand sogenannte­r Othering-Prozesse, die ihre Wurzeln in der Kolonialze­it haben. Zentral für koloniale Herrschaft­sausübung war die Konstrukti­on von Differenze­n. All diejenigen, die nicht zur Gruppe der Kolonisier­enden gehörten, wurden zu »Anderen« gemacht. Das »Eigene« wurde in ein hierarchis­ches Verhältnis zum »Anderen« gesetzt; aus der Aufwertung des »Eigenen« resultiert­e die Abwertung des »Anderen«. In der Regel geschah dies durch die Konstrukti­on von zahlreiche­n Gegensatzp­aaren wie etwa primitiv/zivilisier­t, traditione­ll/ modern oder arm/reich, die unsere Wahrnehmun­g bis heute prägen.

Zwar ist Indien schon seit 1947 keine britische Kolonie mehr. Aber Gruppenver­gewaltigun­gen scheinen bis heute besser in das »rückständi­ge« Bild zu passen, das der Westen von Indien hat, als ein gut organisier­ter Generalstr­eik.

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasND.de/netzwoche

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