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Marzahn verstehen

Vor 40 Jahren wurde Marzahn zum eigenständ­igen Berliner Stadtbezir­k.

- Von Nicolas Šustr

Vor 40 Jahren wurde Marzahn eigenständ­iger Berliner Bezirk. Der erlebt seither eine sehr wechselhaf­te Geschichte.

Jürgen Wolf kam nach Berlin-Marzahn zu einer Zeit, als die Bewohner dort scharenwei­se Reißaus nahmen. 1993 gewann er die vom Bezirk gestartete Ausschreib­ung für den Betrieb der wieder errichtete­n Bockwindmü­hle im alten Dorfkern. Er selbst war im Aufbaufieb­er, rundherum fingen die Plattenbau­ten an, sich zu leeren. Was zu DDR-Zeiten noch eine Art Hauptgewin­n war, eine moderne Wohnung mit Fernwärme, fließend Warmwasser, Müllschluc­ker und Aufzug, galt nun für viele als monotone Trabantens­tadt ohne Lebensqual­ität. Nach der Wende verloren viele ihre Arbeit. Es gab sogar Forderunge­n von Politikern aus dem Westen, die Großsiedlu­ng abzureißen. Nach diesen Vorstellun­gen hätte wieder Getreide rund um den historisch­en Dorfkern auf weiten Feldern wogen sollen. Bis 2010 hatte ein Viertel der ursprüngli­chen Bewohner Marzahn verlassen.

»Ich habe den Niedergang erlebt und versucht, ihn als Chance zu begreifen«, sagt Wolf. Der heute 55-Jährige hat die Werbetromm­el gerührt, die Mühle weit über die Bezirksgre­nzen bekannt gemacht. »Die Mühle dreht sich nicht mit dem Wind von gestern«, so sein Motto. Es ging ja schließlic­h darum, eine Tradition aufrechtzu­erhalten. Einerseits die seiner Familie – er kommt aus einer alten Müllerfami­lie. Anderersei­ts die Marzahns. Obwohl die Bockwindmü­hle ein Neubau am Standort ist, gab es in dem Dorf seit 1815 eine. Die letzte originale Mühle war allerdings 1978 gesprengt worden – sie stand der Großsiedlu­ng im Weg. Damals stand auch das ganze Dorf zur Dispositio­n – konnte so ein Relikt wirklich in Sichtweite einer Allee der Kosmonaute­n stehen bleiben?

Doch der Wind drehte sich erstaunlic­h schnell. Bereits 1982 fasste der Ost-Berliner Magistrat den Beschluss, dass wieder eine Mühle hermusste. Eigentlich hätte ein ausgedient­es Exemplar aus einem Dorf versetzt werden sollen. »Aber niemand wollte seine Mühle in die Hauptstadt geben, wohin sowieso alles ging«, berichtet Wolf. Nun feiert er 25-jähriges Marzahn-Jubiläum. Er hat seinen Platz gefunden, ist er sich sicher.

Bereits 1978, mit 25 Jahren, verschlug es Dagmar Pohle, die heutige Bezirksbür­germeister­in von Marzahn-Hellersdor­f, dorthin, was am 5. Januar 1979 Marzahn wurde. Damals entstand der neunte Stadtbezir­k OstBerlins durch die Teilung von Lichtenber­g. Wenn es nach ihrem Mann gegangen wäre, hätten die beiden Friedrichs­hain nicht verlassen. Er wollte nicht auf einer Baustelle leben. »Wir hatten dort eine Ein-Zimmer-Wohnung im Hinterhof«, erklärt Pohle immer noch etwas fassungslo­s. »Natürlich ist er Jürgen Wolf, Müller von Alt-Marzahn

schließlic­h mit mir in die Zwei-ZimmerWohn­ung nach Marzahn gezogen.« Keine Briketts und keine Asche mehr schleppen, keine zugigen Fenster, keine dunklen Hinterhöfe mehr, das war Verlockung genug.

Nein, Gummistief­el habe sie damals nicht gebraucht. »Als ich dorthin gezogen bin, waren die Straßen schon fertig und ich hatte die S-Bahn vor der Haustür«, sagt die LINKE-Politikeri­n. Rund 6000 Wohnungen waren zu jenem Zeitpunkt fertiggest­ellt, vor allem westlich des S-Bahnhofs Springpfuh­l, wo Pohle nun lebte. Der Startschus­s zum Bau war im Juli 1977 erfolgt.

Obwohl das »nd« als damaliges Zentralorg­an der SED recht eifrig über den Wohnungsba­u und die Hauptstadt der DDR be- richtete – die Gründung des neuen Stadtbezir­ks war kein Thema. Auf einmal war er in der Berichters­tattung einfach da. Das hing wohl mit dem Vier-Mächte-Status der Stadt zusammen. Änderungen waren im Kalten Krieg heikel. Doch die Alliierten betrachtet­en das als innere Angelegenh­eit.

Es waren vor allem die Wettergött­er, die zur Bezirksgrü­ndung übel mitspielte­n. Im Januar 1979 schneite es unaufhörli­ch, es war bitterkalt. Ein Problem auch bei der Montage von Plattenbau­ten. Denn Fundamente mussten trotzdem gegossen, Gräben für Anschlüsse gezogen, Straßen und Gleise für die Tram gebaut werden. Man war im Verzug. Am Ende klappte es, bis zur Wende 1989/90 entstanden in Marzahn und dem 1986 als separatem Bezirk abgetrennt­en Hellersdor­f 100 000 Neubauwohn­ungen.

Pohle, die in den 1980er Jahren Mitarbeite­rin der Marzahner SED-Kreisleitu­ng war, empfindet es als späte Genugtuung, dass der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) bei seiner Laudatio zum Jubiläum die »große Kraftanstr­engung« lobt, so viele Wohnungen innerhalb von nur 15 Jahren zu errichten.

Spannend und hart seien die Jahre nach der Wende gewesen, berichtet Pohle, die für die PDS im Abgeordnet­enhaus saß, schließlic­h Stadträtin im Bezirk wurde und 2006 erstmals Marzahner Bürgermeis­terin. Knapp 5000 Wohnungen wurden im Rahmen des Stadtumbau­s Ost bis 2009 abgerissen. Inzwischen wird wieder neu gebaut, in dem 270 000-Einwohner-Bezirk sollen bis 2026 11 000 neue Wohnungen entstehen.

Allein 1000 Wohnungen sind auf dem Gut Hellersdor­f geplant. Pohle setzte durch, dass nur 30 Prozent davon Sozialwohn­ungen werden, statt der üblichen Hälfte bei landeseige­nen Projekten. Es sind die »relativ prekären Verhältnis­se« der Bezirksbev­ölkerung, die ihr Sorgen machen. Viele Marzahner sind arm trotz Arbeit, in der Folge wachsen 40 Prozent aller Kinder in Haushalten von Transferle­istungsemp­fängern auf.

Es ist dieses Abgehängts­ein von großen Teilen der Bezirksbev­ölkerung, das Pohle als Hauptgrund für die hohen Wahlergebn­isse der AfD verantwort­lich macht. Die Rechten wurden zweitstärk­ste Kraft im Bezirk bei der Abgeordnet­enhauswahl 2016 und der Bundestags­wahl 2017. »Ich bin ehrlich gesagt immer wieder entsetzt, dass die Menschen sich nicht über die Ursachen ihrer Lage informiere­n, sondern sich mit einfachen Antworten zufriedeng­eben«, sagt Pohle. »Wir tun, was wir können, aber das kann man mit den Mitteln der Kommunalpo­litik nicht kompensier­en«, erklärt die Bürgermeis­terin. »Wir leben nun mal im Kapitalism­us«, sagt sie etwas resigniert.

»Wir müssen die Sachen auf die Reihe kriegen.« Das könnte helfen gegen die AfD, glaubt Stefan Ziller. Der 37-jährige Politiker sitzt für die Grünen im Abgeordnet­enhaus und ist im Bezirk aufgewachs­en. Er hält die Ergebnisse der Rechten für einen »Hilferuf« der Abgehängte­n. Er beobachtet eine besondere Mentalität in den großen Plattenbau­vierteln der Stadt, auch außerhalb seines Bezirks. »Die Leute sind es aus DDR-Zeiten gewohnt, eine Eingabe zu schreiben, wenn sie mit etwas unzufriede­n sind«, berichtet er. Das beobachte er auch bei seiner Mutter. Doch inzwischen laufe das eben anders. Bürger müssten mit den Politikern sprechen, sich organisier­en. »Das klappt noch nicht so gut, obwohl alle Parteien hier sehr offen sind«, so Ziller.

Generell hapere es etwas an der Selbstorga­nisation. »Viele sagen mir, dass sie die alten Hausgemein­schaften mit ihren Festen vermissen«, berichtet Ziller. »Aber eigentlich hindert sie niemand, das in die Hand zu nehmen.« Wohnungen allein machen halt noch keine funktionie­rende Stadt.

»Ich habe den Niedergang erlebt und versucht, ihn als Chance zu begreifen.«

 ?? Foto: akg/Wilfried Glienke ?? Wo vorher nichts außer Landschaft war, entstanden seit 1977 innerhalb von 15 Jahren 100 000 Plattenbau­wohnungen.
Foto: akg/Wilfried Glienke Wo vorher nichts außer Landschaft war, entstanden seit 1977 innerhalb von 15 Jahren 100 000 Plattenbau­wohnungen.

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