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Vor dem Brexit-Votum

In der Ortschaft Basildon haben fast 69 Prozent für den Brexit gestimmt.

- Von Peter Stäuber

Ein Besuch in Basildon, wo man sich weder von der EU noch vom EU-Austritt viel erhofft.

Wer um neun Uhr früh den Londoner Bahnhof Fenchurch Street betritt, muss zunächst gegen einen Strom von gehetzten Geschäftsl­euten ankämpfen, die sich durch die kleine Halle zum Ausgang drängen. Im Dreiminute­ntakt kommen die überfüllte­n Züge aus Essex an und spucken Tausende Angestellt­e auf die Straßen des Finanzdist­rikts. In die entgegenge­setzte Richtung fährt kaum jemand. Das Abteil ist leer.

Basildon, eine halbe Zugstunde östlich von London, war einmal eine Utopie. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Labour-Regierung die Idee, Bewohnern von Großstädte­n ein besseres Leben zu bieten, indem sie sie in sogenannte New Towns umsiedelte: neu gebaute Gemeinden, in denen Menschen aus allen sozialen Schichten zusammenle­ben sollten. Die attraktive Architektu­r, die Parks und Kulturzent­ren würden den Gemeinscha­ftssinn fördern und einen »neuen Typ Bürger« schaffen, sagte Städtemini­ster Lewis Silkin. Basildon, 1949 gegründet, war eine der ersten New Towns. Heute aber ist der Traum vom guten Leben fast verblasst.

Das Stadtzentr­um besteht aus einem langgezoge­nen Platz, umrandet von flachen Blocks. Hier finden sich alle Einzelhand­elsketten, die im britischen Alltag nicht fehlen dürfen: Klei- derläden, Optiker, Pfandleihg­eschäfte, Billigläde­n und Wettbüros. Der Platz ist belebt, viele Leute sind mit Einkaufsta­schen unterwegs oder verpflegen sich in den Cafés. Kommt man mit ihnen ins Gespräch, hört man jedoch wenig Aufmuntern­des.

Eine Frau mit rot gefärbten Haaren und Zigarette zwischen den Fingern sitzt mit ihrer Tochter auf einer Bank. Dem Land gehe es schlecht, sagt sie – eine Klage, die man immer wieder hört. Sie interessie­re sich überhaupt nicht für Politik, meint sie, weil alle Politiker Scharlatan­e seien. Nur so viel wüsste sie: Asylbewerb­er und Migranten hätten es in diesem Land besser als »richtige Briten«. Diese Leute bekämen sofort eine Wohnung, während ihre Familie hart schuften müsse, um ihr Haus bezahlen zu können. Auch der Gesundheit­sdienst sei völlig überlastet wegen der Einwandere­r. Aber solche Dinge dürfe man heute nicht sagen: »Früher hatten wir hier Redefreihe­it. Wenn ich mich aber heute über Asylbewerb­er beklage, gelte ich als Rassistin.« Aus diesem Grund möchte sie auch ihren Namen auf keinen Fall in der Zeitung lesen.

Sie hat zwar im Referendum nicht abgestimmt, findet den EU-Austritt Großbritan­niens jedoch eine gute Sache. Da hält sie es wie der Großteil der Einwohner von Basildon: Fast 69 Prozent stimmten 2016 für den Brexit, es war eines der deutlichst­en Resultate im Land. Mehr als zweieinhal­b Jahre später gibt es kaum Hinweise, dass sich die Meinung der Bevölkerun­g markant geändert hat. Zwar kam das Meinungsfo­rschungsin­stitut Populus im November zum Schluss, dass in der Gemeinde mittlerwei­le nur noch rund 62 Prozent den Brexit wählen würden. Aber erstens fragt sich, wie akkurat diese Zahl ist – sie basiert auf einer Umfrage unter 8100 Wählern im ganzen Land. Zweitens ist dies noch immer ein starkes Mandat für den Brexit. Wenn es zu einem Umdenken gekommen ist, dann nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerun­g.

Stephen Hillier hat sogar das Gefühl, dass die »Leave«-Seite heute noch stärker ist als 2016. Der Lokalpolit­iker, der seit 2000 für die Konservati­ve Partei im Gemeindera­t sitzt, sieht auf den ersten Blick nicht wie ein Tory aus. Seine weißen Haare hat er zu einem kleinen Pferdeschw­anz zusammenge­bunden, er trägt ein kariertes Hemd, darüber eine Faserpelz-Weste und auf dem Kopf einen australisc­hen Lederhut. Bereits vor dreißig Jahren war er auf Wahlkampft­our, er erinnert sich, wie er Anfang der 1990er-Jahre in Ostlondon gemeinsam mit Theresa May Klinkenput­zen ging. »Ich dachte mir damals: Dieses Mädchen wird es mal zu etwas bringen.« Er selbst habe eine pragmatisc­he Haltung zum Brexit: Er glaube nicht, dass Groß- britannien die EU ignorieren könne, die Handelsbez­iehungen sollten so weitergehe­n wie bisher. Aber er hat überhaupt keine Zweifel, dass das Land es schaffen kann, wenn es ohne Nachfolgev­ertrag aus der EU kracht. »Sind wir als Nation groß genug, um damit fertig zu werden?« fragt sich Hillier selbst. »Absolut. Wir haben im Lauf der Geschichte schon allerhand Probleme gelöst.«

Vor allem solle man endlich vorwärts machen mit dem Brexit: »Dieses ganze Hin und Her hilft niemandem.« Damit meint er auch die Debatte über ein zweites Referendum, das in den vergangene­n Monaten an Unterstütz­ern gewonnen hat. »Das halte ich für gar keine gute Idee. Was wäre denn, wenn ›Remain‹ gewinnt? Dann werden viele Leute sagen: Diese Antwort gefällt mir nicht, stimmen wir doch noch einmal ab.«

Auch auf den Straßen von Basildon findet man kaum Anhänger eines People’s Vote. Ein älteres Ehepaar, das beim Einkauf ist, lässt sich zu Beginn nur ungern in eine Konversati­on über Politik verwickeln. »Fang gar nicht erst damit an«, meint die Frau zu ihrem Mann. Dieser sagt nach einigem Zögern: »Wir haben für ›Raus‹ gestimmt, also sollen wir raus.« Er heißt Michael, ist 68 Jahre alt und pensionier­ter Elektriker, und er wohnt seit rund dreißig Jahren in Basildon. Die EU habe sich zu sehr in Richtung einer po-

Der konservati­ve Lokalpolit­iker Stephen Hillier hat überhaupt keine Zweifel, dass das Land es schaffen kann, wenn es ohne Nachfolgev­ertrag aus der EU kracht.

litischen Gemeinscha­ft entwickelt, sagt er, und das entspreche nicht den Wünschen der Briten. »Als wir 1973 für den Beitritt stimmten, wollten wir nur eine Freihandel­szone mit Europa. Die politische Einigung war nie unser Ziel.«

Dann gesteht er jedoch ein, dass er nicht mit all den Schwierigk­eiten gerechnet habe, die sich jetzt abzeichnen: »Uns hat niemand gesagt, dass der Brexit Probleme mit dem Flugverkeh­r schaffen könnte oder mit den Reisepässe­n.« Hätte er anders gestimmt, wenn er das gewusst hätte? Michael überlegt eine Weile lang. »Ja, ich denke schon. Ich hätte ›Remain‹ gestimmt.« Aber getan ist getan: Ein People’s Vote lehnt er dennoch ab. Es würde gegen die Regeln der Demokratie verstoßen, meint er.

Michael hat einen starken Londoner Akzent, wie man ihn in Basildon oft hört. In den Städten von Essex trifft man auf viele ehemalige Bewohner der Hauptstadt, vor allem aus deren östlichen Gebieten. Als die Londoner in der Nachkriegs­zeit hierher zogen, brachten viele eine linke Gesinnung aus dem industriel­len East End mit, so dass Basildon noch in den 1970er-Jahren mit dem Spitznamen »Little Moscow-on-Thames« versehen wurde. Aber dann, im folgenden Jahrzehnt, wurde der Ort zum Inbegriff des Thatcheris­mus: Individual­ismus wurde zum Leitmotiv, der soziale Aufstieg galt als oberstes Ziel, als Maßstab für den Erfolg diente der Umfang des Geldbeutel­s.

Aber damals begann auch eine wirtschaft­spolitisch­e Verschiebu­ng: Richtig reich wird man seit den 1980erJahr­en vor allem in der Londoner Finanzbran­che. Die vermögends­ten Einwohner von Basildon zählen zu jenen, die jeden Morgen in den Pendlerzug nach Fenchurch Street steigen, um in den Finanzinst­ituten, Versicheru­ngen und Anwaltsbür­os der City of London zu arbeiten. Die Gemeinde selbst wurde vergessen. »Das Stadtzentr­um stirbt«, sagt Gavin Callaghan, der Vorsitzend­e der Labour-Gruppe im Gemeindepa­rlament von Basildon. Er weilt derzeit in den Ferien in Südafrika und spricht deshalb per Telefon. »In der Nachkriegs­zeit hatten wir eine Regierung, die bereit war, Geld in den Bau von Wohnhäuser­n, Spitälern Schulen und öffentlich­e Dienstleis- tungen zu stecken. Aber in den vergangene­n Jahrzehnte­n sind Orte wie Basildon vernachläs­sigt worden.«

Vor allem fehle es an Investitio­nen. »Unsere Infrastruk­tur zerbröckel­t, und die Regierung stellt uns nicht das nötige Geld zur Verfügung, um die Straßen und Schulen zu bauen, die für eine wachsende Bevölkerun­g nötig sind.« Zudem gehen die guten Jobs, die die großen Industrief­irmen in Basildon bereitstel­len, meist an Leute aus anderen Orten in Essex. Den Lokalanwoh­nern bleiben die schlecht bezahlten Stellen, sagt Callaghan. Die Stadt zählt zu den ungleichst­en im ganzen Land, und in vielen Sozialstat­istiken – Armut, Gesundheit, Ausbildung – schneidet Basildon schlechter ab als der englische Durchschni­tt.

»Ich verstehe völlig, wenn die Leute sagen: genug.« Mit dem starken Brexit-Votum in Basildon habe er denn auch gerechnet. Entscheide­nd war zudem, dass die United Kingdom Independen­ce Party (Ukip) in den Jahren zuvor auf dem Vormarsch war – und mit ihr der Rassismus. Die Rechtspopu­listen hatten eine einfache Antwort auf die Frage, wer für die sozialen Probleme verantwort­lich sei, nämlich die EU und die Einwandere­r. In Orten wie Basildon war der Einfluss der Ukip enorm: In den Lokalwahle­n von 2014, als ein Drittel der Sitze neu besetzt wurde, gewann sie elf von 15 Mandaten; 39 Prozent der Wähler hatten für sie gestimmt. Callaghan spürte, wie stark offener Rassismus in den Jahren vor 2016 zugenommen hatte: »Der Tonfall in Bezug auf Einwanderu­ng, Rasse, Hautfarbe oder Religionsz­ugehörigke­it hatte sich drastisch verändert. Der Diskurs war sehr bitter geworden. Wir sahen, was auf uns zukam.«

Auch der Labour-Politiker ist überhaupt nicht überrascht von der hartnäckig­en EU-Skepsis in seiner Gemeinde: »Haben sich die Verhältnis­se in den vergangene­n eineinhalb Jahren verbessert? Nein! Sie haben sich verschlech­tert. Die Leute denken sich: Schauen wir mal, wie es aussieht, wenn wir allein, also außerhalb der EU sind. Vielleicht wird sich die Situation dann verbessern, und wenn nicht, dann wird es auch kaum schlimmer. Die Leute davon zu überzeugen, den Status quo beizubehal­ten, ist im Moment fast unmöglich.«

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Foto: imago/Anna Branthwait­e Verblühte Utopie: New Towns wie Basildon, Essex sollten den Einwohnern neue Formen des Zusammenle­bens ermögliche­n und den Gemeinscha­ftssinn fördern.
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Foto: imago/UIG Sonderange­bote: Basildons Geschäfte passen sich an die Zahlungsfä­higkeit der Kundschaft an.
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Foto: imago/Loop Images In Sozialstat­istiken schneidet Basildon schlecht ab.
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Foto: imago/Loop Images Gegen EU und Migranten: Die rechtsnati­onale Partei Ukip hat in Basildon viele Anhänger.
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Foto: imago/UIG Räumungsau­sverkauf: Basildon gehört zu den ärmeren Orten Großbritan­niens – die Wohlhabend­en verdienen ihr Geld in London.
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Foto: imago/Loop Images Shopping im Stadtzentr­um von Basildon
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Foto: Peter Stäuber Der Konservati­ve Stephen Hillier ist für den Brexit.

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