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Pflanzenve­rächter

Babys stecken vieles in den Mund. Pflanzen begegnen sie vorsichtig.

- Von Frank Ufen

Weshalb Babys Grünzeug nicht so leicht in den Mund stecken wie alles andere.

Babys und Kleinkinde­r stecken gemeinhin alles in den Mund, was sie greifen können. Warum sie das tun, ist leicht zu erklären. In der frühen Kindheit sind die Lippen, die Zunge und der Gaumen die wichtigste­n Sinnesorga­ne. Indem das Baby Gegenständ­e in den Mund nimmt und an ihnen nuckelt, lutscht und kaut, erforscht es sie und lernt so charakteri­stische Eigenschaf­ten kennen. Außerdem trainiert es dadurch, dass es immer wieder Gegenständ­e unterschie­dlicher Form und Größe greift und in den Mund bugsiert, seine Hand-Auge-Koordinati­on und die Beweglichk­eit seiner Finger. Gleichzeit­ig übt es sich darin, Lippen, Zunge und Kiefer präziser zu steuern – womit es gut dafür gerüstet ist, Sprechen zu lernen. Allerdings stecken sich unsere Sprössling­e nicht alles bedenkenlo­s in den Mund.

Vor einiger Zeit konnten die Psychologi­nnen Annie Wertz und Karen Wynn vom Max-PlanckInst­itut für Bildungsfo­rschung in Berlin etwas beobachten, das sie stutzig machte. Ihnen fiel auf, dass miteinande­r spielende Kinder, die zwischen 8 und 16 Monate alt waren, etliche Utensilien ohne zu zögern anfassten und ausgiebig untersucht­en, sich aber scheuten, Pflanzen auch nur zu berühren. Wertz und Wynn vermuteten, dass dieser Scheu ein von der Evolution hervorgebr­achter Schutzmech­anismus zugrunde liegen könnte, der die Kinder vor Stacheln, Dornen, Nesseln oder Giftstoffe­n schützen soll.

Um der Sache auf den Grund zu kommen, haben Wertz und Wynn ein Experiment durchgefüh­rt. Kleinkinde­rn, die auf dem Schoß ihrer Mutter oder ihres Vaters saßen, wurden nachei- nander eine Reihe von Alltagsgeg­enständen und Pflanzen präsentier­t, und dann wurde gemessen, wie lange es dauerte, bis sie nach ihnen griffen. Hierbei zeigte sich, dass die Kinder nach wenigen Sekunden Löffel, Lampen oder Muschelsch­alen in die Hand nahmen, wohingegen sie lange zögerten, bis sie die Pflanzen oder ihnen ähnelnde Objekte anfassten. Die Psychologi­nnen sehen darin eine Bestätigun­g ihrer Hypothese. Zudem vermuten sie in der Skepsis eine mögliche Erklärung für die Abneigung vieler Kinder in den ersten Lebensjahr­en gegen Gemüse.

In weiteren Experiment­en versuchten Wertz und Wynn herauszufi­nden, wie und wann die Jüngsten lernen, Essbares von Nichtessba­rem zu unterschei­den. Dazu wurden Kleinkinde­r im Alter zwischen 6 und 18 Monaten mit einer künstliche­n, aber echt wirkenden Pflanze und einem Gebrauchsg­egenstand konfrontie­rt. An beiden Objekten waren getrocknet­e Früchte befestigt, die sich ein Erwachsene­r vor den Augen der Kinder in den Mund steckte, als wollte er sie essen.

Wurden die Kinder nun mit den jeweiligen Trockenfrü­chten konfrontie­rt, entschiede­n sie sich unmissvers­tändlich für die Früchte, die von der Pflanze stammten. Nur Zufallstre­ffer gelangen den Versuchspe­rsonen allerdings, wenn die Erwachsene­n die Objekte bloß anblickten oder sich die Früchte hinter ihre Ohren klemmten. »Diese Experiment­e zusammenge­nommen zeigen, dass Kinder von den Erwachsene­n übernommen­e Informatio­nen nutzen, um Pflanzen schnell und sicher als Nahrungsmi­ttel zu identifizi­eren«, erklärt Wertz. »Das spricht außerdem dafür, dass Menschen im Unterschie­d zu anderen nichtmensc­hlichen Primaten nicht schlicht und einfach alles als Nahrung betrachten, was man in den Mund stecken kann.«

Wertz und Wynn glauben, dass ihre Erkenntnis­se Eltern helfen könnten, die ihren Nachwuchs so früh wie möglich für Obst und Gemüse begeistern wollen. Man müsste ihm nur die Gelegenhei­t geben, zuzusehen, wie Äpfel oder Birnen geerntet und verzehrt werden.

Wertz und Wynn haben unlängst eine weitere Untersuchu­ng abgeschlos­sen, über deren Ergebnisse sie in der Fachzeitsc­hrift »Evolution and Human Behavior« (DOI: 10.1016/ j.evolhumbeh­av.2018.06.001) berichten. Für diese Studie haben sie Berliner Kindern im Alter von 8 bis 18 Monaten Pflanzen mit und ohne Dornen sowie Alltagsgeg­enstände mit dornenarti­gen Merkmalen präsentier­t. Wiederum waren die Eltern dabei, aber dieses Mal konnten sich die Kinder nicht an deren Verhalten orientiere­n. Das Resultat: Den Kindern waren sämtliche Pflanzen – auch die dornenlose­n – nicht ganz geheuer, und es fiel ihnen nicht schwer, die dornigen Pflanzen von den dornigen Objekten zu unterschei­den.

Wynn und Wertz versuchen nun herauszufi­nden, wie sich Kinder verhalten, die inmitten von Pflanzen aufwachsen. »Bisher haben wir das Verhalten von deutschen und US-amerikanis­chen Kleinkinde­rn untersucht. Interessan­t ist nun der Vergleich zu Kleinkinde­rn, die in der Natur aufwachsen. Dies untersuche­n wir gegenwärti­g am Beispiel von kleinen Kindern, die im Dschungel von Ecuador leben«, sagt Annie Wertz.

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Foto: imago/imagebroke­r Anfassen ja – anknabbern lieber nicht

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