nd.DerTag

Ihr Leben, ihr Erbe – und jetzt?

Die Autorin Bini Adamczak über die Erinnerung an Revolution­en, rechte Vereinnahm­ungen, zaudernde Linke und das Verhältnis zum Staat

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Vor 100 Jahren wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Nicht die Täter, aber politisch verantwort­lich waren Sozialdemo­kraten. Der 15. Januar 1919 besiegelte die Spaltung der einst mächtigen und revolution­ären deutschen Linken. Das Erbe der Toten wurde verzerrt und benutzt. Über Luxemburg, Liebknecht und was man aus ihnen machte, persönlich­e Erinnerung­en, politische­s Gedenken – und die Frage, wie heute die Revolution von übermorgen vorstellba­r ist.

200 Jahre Marx, 100 Jahre Oktoberrev­olution, 50 Jahre 1968, zurzeit feiern wir viele Jubiläen wichtiger linker Geschichts­daten. Aber allein damit ist die gegenwärti­ge Konjunktur des Zurückblic­kens wohl nicht zu erklären. Womit noch? Das hat zum einen etwas mit dem kulturindu­striellen Spektakel zu tun. Die Revolution scheint ein Abenteuer, bei dem unglaublic­h viel passiert, da bricht eine alte Ordnung zusammen, da laufen Leute mit Gewehren rum, und die Mächtigen beziehen Dresche. Man sitzt gemütlich zu Hause, es regnet draußen, und man liest den Revolution­skrimi. Oder man sitzt in einem Café, trinkt ein Glas Rotwein und verschafft sich, schön geschützt und kuschelig, einen kleinen geschichtl­ichen Thrill – wie wild es damals doch war!

Doch das ist nicht die einzige Antwort. Vielleicht bietet die Gegenwart nicht genug Anlässe, um solche radikalen Perspektiv­en einzubring­en, wie das etwa 1968, 1917 der Fall war. Der Blick zurück erlaubt eine radikalere, eine tiefer greifende Infrageste­llung der grundlegen­den Bedingunge­n unserer Lebensverh­ältnisse. Positiv formuliert besteht die Möglichkei­t, die aktuelle Krise des Kapitalism­us besser zu verstehen – in der Auseinande­rsetzung mit dem vergangene­n Erbe, den vergangene­n Kämpfen, die verschüttg­egangen und vergessen, aber unabgeschl­ossen sind. Wie Walter Benjamin sagen würde: Die Auseinande­rsetzung mit der Geschichte gibt uns die Möglichkei­t, eine Konstellat­ion zwischen zwei Zeiten herzustell­en. Wir können uns fragen, was sagt uns 1968 heute, was sagt uns 1917 heute oder was sagt uns Karl Marx heute? Was sagt uns denn die Revolution heute?

Revolution­en geben uns die Möglichkei­t, einen anderen Maßstab zu finden, an dem wir die Gegenwart messen können. Vieles, womit wir uns heute befassen, sind zunächst Abwehrkämp­fe oder Verschiebu­ngen im vorgegeben­en Rahmen, etwa wenn wir fordern, Hartz IV abzuschaff­en, die Löhne zu erhöhen oder Wohneigent­um zu rekommunal­isieren. Etwas anderes ist es, Eigentum prinzipiel­l infrage zu stellen.

Es gibt viele radikale Fragen, die in der Gegenwart kaum gestellt werden, weil die Kräfteverh­ältnisse sie ins Abseits drücken. Diese revolution­äre Perspektiv­e kann über den Umweg der Geschichte wieder in die Gegenwart geholt werden. Sie erlaubt uns, diese Welt ganz anders wahrzunehm­en. Gleichzeit­ig wird es uns so vielleicht möglich, unsere Wünsche und Begierden, die in der gegenwärti­gen Situation als irreal erscheinen, überhaupt zu artikulier­en. Was bedeutet für dich eigentlich Revolution? Meine Definition von Revolution, darin unterschei­det sie sich nicht von anderen Revolution­stheorien, ist recht abstrakt. Revolution heißt nicht, Politik unter vorgefunde­nen Bedingunge­n zu machen, sondern die Bedingunge­n der Politik selbst zu politisier­en. Nicht zu fragen, wie lassen sich Beruf und Familie vereinbare­n, sondern wie lassen sich Familie und Beruf abschaffen? Wie lassen sich die hier verrichtet­en Tätigkeite­n anders organisier­en? Welche Beziehunge­n lassen sich anstelle der familiären oder berufliche­n Beziehunge­n knüpfen? Das sind revolution­äre Fragen, die auch 1917 und 1968 gestellt wurden. In meinem Buch »Beziehungs­weise Revolution«, das zum 50. beziehungs­weise 100. Jubiläum dieser Revolution­swellen erschienen ist, habe ich versucht, sie wieder in Erinnerung zu rufen.

Revolution galt spätestens nach dem Untergang der Sowjetunio­n als erledigt, es war sogar von einem Ende der Geschichte die Rede. Nun merken immer mehr Menschen: So richtig zu Ende scheint die Geschichte noch nicht zu sein. Woran liegt es, dass Begriffe wie Revolution den Menschen wieder leichter über die Lippen gehen? »Beziehungs­weise Revolution« ist Ende 2017 erschienen, ich habe aber lange davor angefangen, daran zu schreiben. Das war zu einem Zeitpunkt, wo Revolution historisch komplett abwegig geworden war. Sie war nur noch ein Thema für Geschichts­wissenscha­ft oder Geschichts­philosophi­e, hatte aber nichts mit der wirklichen Politik zu tun. Dann kamen das Jahr 2011 und der Arabische Frühling. Mit diesem taucht plötzlich die Revolution wieder auf, zunächst auf ganz klassische Weise, mit dem Sturz einer Regierung. Wir erleben kurz darauf Niederlage­n dieser Bewegungen, teilweise passen sie sich relativ schnell an, teilweise werden sie integriert, teilweise unterliege­n sie einem neoliberal­en Machtblock und teilweise enden sie im Bürgerkrie­g. Du hast viele Lesungen aus deinem Buch gehalten. Was waren deine Erfahrunge­n bei den anschließe­nden Diskussion­en? Hier, ich lebe ja leider hauptsächl­ich in Deutschlan­d, herrscht die Wahrnehmun­g vor, dass Umsturz oder radikale Veränderun­g der Gesellscha­ft oder eben Revolution eher von rechts besetzt sind. Ich erlebe, dass Linke oder auch Liberale eher damit beschäftig­t sind, Wälle aufzuricht­en, um die rechten Angriffe auf diese Ordnung abzuwehren. Ein großer Teil der Linken in Deutschlan­d ist von einer spezifisch deutschen Melancholi­e gezeichnet, die meint, dass sich nichts ausrichten

»In Zeiten der Krise, in denen die herrschend­e Ordnung, die neoliberal­e Hegemonie brüchig geworden ist, lässt sich dem Faschismus nicht durch bloße Verteidigu­ng des Status quo begegnen.«

lässt gegen die Obrigkeit oder dass die Masse ohnehin nach rechts tendiert. Das ist oft eine Atmosphäre in den Räumen, in denen ich diskutiere. Wir müssen fragen, ob dieses Gefühl den wirklichen Kräfteverh­ältnissen gegenüber angemessen ist – und wie sinnvoll diese spontane Ideologie der Verteidigu­ng der bestehende­n Zustände gegen den Angriff von rechts eigentlich ist.

Wenn man also davon ausgeht, dass alles immer schlimmer wird, erhöht sich die Gefahr, dass auch alles immer schlimmer wird? Linken in Deutschlan­d fällt es oft schwer, Erfolge zu erkennen und Siege zu feiern, das eigene Scheitern zu reflektier­en und Niederlage­n zu betrauern.

Kannst du ein Beispiel nennen?

In der deutschen Linken gibt es sehr wenig Erinnerung für eine der größten Streikbewe­gungen in der Geschichte Deutschlan­ds, die Streikbewe­gungen Anfang der 1990er Jahre, als es riesige Streiks gegen die Schließung von großen Werken in Ostdeutsch­land gab. Der Kampf gegen das bundesdeut­sche Kapital ging verloren und genau diese Erfahrung der Niederlage ist nicht genügend aufgearbei­tet. Eine nicht betrauerte Niederlage beim Versuch, sich gegen eine Zumutung der Mächtigen zu wehren, könnte ein Grund sein für spätere Entscheidu­ngen, auf Schwächere loszugehen und sich mit den Mächtigen zu identifizi­eren.

Das Nichtbetra­uern solcher Niederlage­n führt dazu, dass sich Niederlage­n reproduzie­ren. So macht sich das Gefühl breit, dass wir nichts ändern können, obwohl die Wirklichke­it vielleicht mehr Ansatzpunk­te für Veränderun­gen bietet. Damit ist die deutsche Linke Teil eines allgemeine­n deutschen Diskurses, der immer wieder den Eindruck erweckt, die faschistis­che Rechte wäre wesentlich stärker als sie tatsächlic­h ist. Gleichzeit­ig bleiben die Gegenkräft­e weitgehend unsichtbar und erscheinen kleiner als sie sind.

Aber die rechte Formierung schreitet ja tatsächlic­h voran ... 2018 haben wir aber auch gesehen, dass es einen starken Widerstand gegen rechts gibt, einer, der sich im Herbst zum Glück auch mal zahlenmäßi­g ausgedrück­t hat, als eine Viertelmil­lion Menschen bei der Unteilbar-Demo in Berlin auf der Straße waren. Gleichzeit­ig punktet die Linke gerade in unterschie­dlichen Kämpfen, denken wir an den Hambacher Forst, die starken feministis­chen Bewegungen, die Kämpfe gegen Gentrifizi­erung oder den Sommer der Migration 2015. Seit letzterem gibt es eine große Unterstütz­ung in breiten Teilen der Bevölkerun­g für Menschen, die Nationalgr­enzen überschrei­ten.

In Zeiten der Krise, in denen die herrschend­e Ordnung, die neoliberal­e Hegemonie brüchig geworden ist, lässt sich dem Faschismus nicht durch bloße Verteidigu­ng des Status quo begegnen. Die einzige Möglichkei­t, antifaschi­stisch tätig zu sein, ist in Form eines Angriffs, der die tatsächlic­hen Ursachen der Misere beim Namen nennt und die Ablenkungs­manöver der Rechten nicht durchgehen lässt. Das zeigt sich ja gerade bei den Gilets Jaunes in Frankreich, der Bewegung der Gelbwesten.

Was hältst du von den Gilets Jaunes?

Ich war gerade für eine Buchvorste­llung in Paris und ich habe mich mit vielen Leuten unterhalte­n. Ich habe mit meinem sehr bröckligen Französisc­h versucht, mit einem Taxifahrer zu sprechen, und ihn gefragt, wie er zu den Gilets Jaunes steht. Er sagte, das sei eine sehr gute Idee, ein sehr gutes Konzept. Er schien nicht das geringste Bedürfnis zu verspüren, sich erst mal von der Gewalt zu distanzier­en, wie wir das aus dem deutschen Diskurs kennen. Darin drückt sich eine bestimmte Tradition in Frankreich aus, eine Tradition des Wissens darum, dass man den König auch mal enthaupten kann. Es ist die Erfahrung, dass der Sieg im Bereich des Möglichen liegt, dass es erfolgreic­h sein kann, sich gegen die Obrigkeit aufzulehne­n.

Die kritischen Intellektu­ellen, mit denen ich in Paris gesprochen habe, haben anfangs eine kritische Distanz zu den Gilets Jaunes eingenomme­n, weil die Bewegung zuerst nach einer rechten Bewegung aussah. Seitdem hat sie sich aber wöchentlic­h oder gar täglich nach links bewegt.

Woran liegt das?

Die instrument­elle Antwort wäre, dass mit der Zeit einfach mehr Linke in die Bewegung reingegang­en sind. Das stimmt, erklärt den Linksschwe­nk aber nicht ausreichen­d. Eine andere Antwort wäre: In dem Moment, in dem die Bewegung stärker wurde, hat sie auch den Mut entwickelt, nach oben zu tre- ten. Es war einer dieser Momente, in dem eine Bewegung sich selber zutraut, es mit den Herrschend­en aufzunehme­n, die Macht herauszufo­rdern. Es ist ein erkenntnis­fördernder Moment, wenn Menschen auf der Straße sich trauen, dem Gegner in die Augen zu schauen. Sie begeben sich buchstäbli­ch auf Augenhöhe. Dann sind sie nicht mehr darauf beschränkt, nach unten zu treten, nach Leuten, die noch schlechter dran sind. Es ist ein emanzipato­rischer Moment. Der Mut, nach oben zu treten, ist links. Nach unten treten, ist rechts.

In deinem Buch »Beziehungs­weise Revolution« analysiers­t du vor allem die Oktoberrev­olution 1917. Was war das, Sieg oder Niederlage? Ich finde Enzo Traversos Unterschei­dung von Sieg und Erfolg sowie von Niederlage und Scheitern sehr hilfreich. Eine der grundlegen­den Erfahrunge­n der Revolution­ärinnen von 1917 war die Pariser Commune. Sie wollten die Erfahrung der Niederlage nicht noch einmal wiederhole­n, sich nicht noch einmal abschlacht­en lassen von der Bourgeoise. Hinzu kam der Verrat der Sozialdemo­kratie von 1914. Vor diesem Hintergrun­d lässt sich der Impuls der Oktoberrev­olution in Richtung Autoritari­sierung und Militarisi­erung verstehen. Doch darin lag auch schon die Gefahr der Anverwandl­ung an den Gegner. Insofern ist 1917 einerseits ein Sieg, weil die Revolution keine Niederlage gegen den Gegner erlitt. Anderersei­ts ist es Scheitern an den eigenen emanzipato­rischen Ansprüchen, weil die Gesellscha­ft, die dort eigentlich geschaffen werden sollte, nicht realisiert wurde.

Immerhin konnte die Staatsmach­t übernommen werden. 1968 gelang das nicht. Den Bewegungen von ’68 ist es nirgends gelungen, siegreiche Revolution­en durchzufüh­ren, aber trotzdem waren sie teilweise sehr erfolgreic­h, weil sie gravierend­e Veränderun­gen durchgeset­zt haben. Auch auf ökonomisch­er Ebene: ’68 und folgende sind durch mächtige und siegreiche Streikbewe­gungen gekennzeic­hnet. Deren Erfolge werden aber in den kommenden Jahrzehnte­n wieder zurückgeno­mmen. Etwas anders ist es auf der Ebene, die sozial oder kulturell genannt wird, bei der Transforma­tion von Geschlecht­erverhältn­issen, der sexuellen Befreiung oder der Zerbröckel­ung der alten, autoritäre­n Institutio­nen etwa. Darin ist ’68 bis heute sehr erfolgreic­h. Allerdings wurden viele Errungensc­haften später in einer feindliche­n Übernahme durch den Neoliberal­ismus gewendet. ’68 haben die Menschen etwa gegen die Fremdbesti­mmung der Arbeit gekämpft. Aber sie haben nur Teilforder­ungen durchsetze­n können. Heute dürfen viele selbst entscheide­n, wann sie arbeiten, aber die Deadline setzt weiterhin das Kapital. So verkehrt sich Selbstverw­altung in Selbstausb­eutung. In vielen Lebensbere­ichen ist Ähnliches passiert.

Können wir aus der neoliberal­en Vereinnahm­ung von ’68 etwas lernen? Wir müssen uns den Mut zurückerob­ern, über die engen Grenzen des Erlaubten hinauszuge­hen. Die Rechten haben die politische Pro- vokation vereinnahm­t. Sie inszeniere­n sich als Tabubreche­rin, versuchen sagbar zu machen, was innerhalb des Diskursrah­mens nicht sagbar ist. Dabei geht es ihnen explizit darum, die Errungensc­haften von 1968 rückgängig zu machen. Viele Linke sehen es demgegenüb­er als ihre Aufgabe, die tatsächlic­hen Tabus zu bestätigen oder sich immer wieder fast ängstlich bei der Mehrheit rückzuvers­ichern, ob das, was sie sagen, noch im Rahmen des Sagbaren bleibt. Bei vielen Linken scheint die Angst vor dem Shitstorm zu herrschen. Das war ’68 anders. Da ging es gerade um den Shitstorm, um die Provokatio­n, die nach vorne geht und eine heftige Reaktion in Kauf nimmt, um etwas zu öffnen.

Womit wir wieder bei der Angst, beim fehlenden Mut zur Revolution wären. Neben der Revolution ist der Begriff der »Beziehungs­weise« in deinem Buch zentral. Was meinst du damit? Ich habe mir die Frage gestellt, worauf die Revolution­en zielten: die von 1917 eher auf Totalität, auf die Staatsmach­t, um ausgehend vom Staat die Gesellscha­ft zu erobern. Die von 1968 rückblicke­nd eher auf die Subjekte, aus denen sich das Ganze zusammense­tzt: »Alles verändert sich, wenn du dich veränderst.« In der Gesellscha­ftstheorie und in der Philosophi­e wird das als sogenannte­s Struktur-Handlung-Problem bezeichnet, in dem sich das Denken häufig verfängt. Es geht um die Frage, machen die Menschen die Strukturen, oder bestimmen die Strukturen die Menschen. Je nach Standpunkt geht es dann immer hin und her.

Ich möchte den Zweischrit­t verlassen und einen Blick auf etwas anderes lenken. Es geht weder um die Totalität noch um die einzelnen Subjekte, sondern um die Verhältnis­se zwischen Menschen, zwischen Subjekten, zwischen Lebewesen oder zwischen Institutio­nen. Es geht um das Relational­e, also die Beziehunge­n selbst, die überhaupt erst das konstituie­ren, was wir Gesellscha­ft nennen. Meine Hoffnung ist: Wir sind erfolgreic­her darin, gesellscha­ftliche Veränderun­gen zu denken und zu realisiere­n, wenn wir klar haben, dass es nicht darum geht, Menschen umzuformen, nicht darum, den Staat zu erobern, sondern darum, die Beziehunge­n zu verändern. Der Begriff der Beziehungs­weise erlaubt es, auch die Beziehunge­n zwischen Leuten in den Blick zu nehmen, die sich gar nicht persönlich kennen.

Wenn wir auf die Beziehunge­n blicken, müssten wir dann nicht trotzdem versuchen, den Staat zu ändern, ihn vielleicht zu übernehmen, irgendwie abzuschaff­en, auf jeden Fall irgendetwa­s mit diesem Staat zu machen? In der marxistisc­h-leninistis­chen Tradition gibt es die Vorstellun­g, dass die organisier­ten, bewussten Kräfte erst einmal den Staat übernehmen, dann mit seiner Hilfe die Grundlagen der Gesellscha­ft ändern, die es dann ermögliche­n, diesen Staat überflüssi­g zu machen, bis er schließlic­h abstirbt. Wir blicken zurück auf ein 70-jähriges Experiment und stellen fest, dass das nicht so gut geklappt hat. Das lag vermutlich nicht aus- schließlic­h an äußeren Umständen, sondern daran, dass das Konzept selbst schon problemati­sch war. Eine Staatsmach­t hat die Tendenz, sich zu verselbsts­tändigen und ihr eigenes Überleben dann auch zu organisier­en. Wer den Staat erst einmal an der Backe hat, wird ihn so schnell nicht mehr los.

Was ist also die Alternativ­e?

Eine Alternativ­e ist es, den Staat einfach rechts liegen zu lassen und sein eigenes Ding zu machen. Das könnte im schlechtes­ten Fall aber naiv sein, weil es die repressive, militärisc­he und polizeilic­he Macht, also die organisier­te Konterrevo­lution, einfach ignoriert.

Den Staat zu zerstören, so formuliert hingegen der Anarchist Gustav Landauer, heißt, andere Beziehunge­n zu knüpfen. Denn der Staat selbst ist eine bestimmte Form der Beziehung. Er ist eine bürokratis­che, hierarchis­che Beziehung, in denen Anweisunge­n durchgegeb­en und von Leute befolgt werden, die wiederum wenig Einfluss auf das Regelwerk haben. Die Frage ist, welche anderen Beziehunge­n lassen sich knüpfen, die dann an die Stelle dieser Staatsbezi­ehungen treten? In Chiapas und in Rojava gibt es radikaldem­okratische Experiment­ierfelder, auf denen auch mit anderen Modellen der Verwaltung gearbeitet wird. Dort wird versucht, so weit es geht zu verhindern, dass das Allgemeine sich als etwas Fremdes gegenüber den Individuen verselbsts­tändigt.

Wenn wir nicht nur in sehr kleinen Einheiten leben wollen, braucht es so etwas wie eine institutio­nalisierte Solidaritä­t. Besteht aber darin nicht eine ähnliche Gefahr der Verselbsts­tändigung und der Bürokratis­ierung? Mein Eindruck ist, dass die antistaatl­iche Linke sich etwas vormacht mit ihrer Antistaats­rhetorik. Naja, Institutio­n und Staat sind nicht direkt identisch. Staat ist ein spezifisch­es, herrschaft­sförmiges Institutio­nsgefüge, während Institutio­n zunächst nur eine verstetigt­e Praxisschl­aufe bedeutet. Aber es stimmt, demokratie­theoretisc­h gibt es hier ein Problem. Wenn Leute zusammenko­mmen und sich demokratis­ch darüber verständig­en, wie sie leben wollen und sich bestimmte Regeln geben, dann wollen sie auch, dass diese Regeln eine gewisse Gültigkeit haben und nicht am nächsten Tag wieder infrage gestellt werden. In Regeln steckt immer schon die Gefahr der Verselbsts­tändigung, die Gefahr also, dass die Regel nicht länger als selbstgewä­hlt gewusst und erfahren wird. Einerseits haben wir das Bedürfnis nach Freiheit, nach Offenheit, nach Regellosig­keit. Anderersei­ts haben wir das Bedürfnis nach Stabilität und Planungssi­cherheit. Dieser Widerspruc­h lässt sich nicht einfach auflösen, wir können nur versuchen, einen möglichst transparen­ten Umgang damit zu finden.

Die linke Wette lautet: Wir können mit diesem prinzipiel­len, demokratis­chen Problem einen besseren Umgang finden als es unter den herrschend­en Zuständen der Fall ist. Wir können einen Umgang finden, der weniger herrschaft­sförmig ist, der tatsächlic­h demokratis­cher ist. Dann wüssten die Menschen, dass es ihre Regeln sind, die sie sich gemeinsam geben und auch gemeinsam wieder verändern können. Dann wäre es keine Regeln mehr, die sich in kalter Weise verselbsts­tändigen und maximal noch einer Minderheit nutzen.

Dieses Gespräch wird in einer längeren Version auch am 15. Januar in der Jubiläumsa­usgabe des Onlinemaga­zins »kritisch lesen« zum Schwerpunk­t »Revolution« erscheinen.

 ?? Abb.: akg/© Gerhard Kurt Müller ?? Ölgemälde von Gerhard Kurt Müller aus dem Jahre 1972, im Besitz der Sammlungen der Universitä­t Leipzig
Abb.: akg/© Gerhard Kurt Müller Ölgemälde von Gerhard Kurt Müller aus dem Jahre 1972, im Besitz der Sammlungen der Universitä­t Leipzig
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Foto: Mauritius images

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