nd.DerTag

Unter Arglosen

- Regina Stötzel

Als der Mensch den aufrechten Gang erlernte und mit Händen ausgestatt­et wurde, die ihn besonders gut greifen ließen, hätte eigentlich schon klar sein sollen: Fürs Grobe, fürs Stampfen und Treten und alles, was den Weg versperrt, würden künftig die Füße zuständig sein. Für alles Meisterhaf­te, fürs Basteln und Sezieren, für das Zielen und Treffen würden es die Hände sein.

Dass dennoch der Fußballspo­rt erfunden wurde – nun, es gibt ja auch Dreisprung, Skeleton und Polo. Auch ist den Fußballern nicht vorzuwerfe­n, dass sie so wenige Tore schießen. Sie strengen sich ja wirklich an, aber es liegt eben nicht in der Natur der Sache, mit den Füßen Präzisions­arbeit zu verrichten, wie einen Ball auf knapp 18 Quadratmet­ern unterzubri­ngen! Nur die wenigsten bringen es zu so viel Können, dass es auch schön anzusehen ist. Im Regelfall hecheln 22 Menschen hin und her, immer wieder geht der Ball verloren, wird gen Himmel oder sonst wohin ge- bolzt. Selbst bei WM-Partien lassen sich die vorzeigbar­en Spielzüge hinterher meist in zwei Minuten zusammenfa­ssen.

Erstaunlic­h ist nur, wie viele Menschen jedes Wochenende eineinhalb Stunden selbst bei Minusgrade­n im Freien warten, ob ein Spiel 0:0 oder 1:1 ausgeht, aus Langeweile dabei trinken, singen und sich raufen und bei Weltmeiste­rschaften (der Männer) vier Wochen in den Ausnahmezu­stand verfallen.

Eine kunstvolle, athletisch­e und spannende Sportart wie Handball wird dagegen vergleichs­weise wenig zur Kenntnis genommen. Man muss schon dankbar sein, dass die WM der Männer diesmal im Livestream und Spiele mit deutscher Beteiligun­g im Fernsehen übertragen werden. Jedoch erntet man selbst unter vernünftig­en Menschen wie Redakteur*innen einer sozialisti­schen Tageszeitu­ng mehrheitli­ch verständni­slose Blicke, wenn man mitteilt, wegen eines Handballsp­iels pünktlich nach Hause fahren zu wollen. Ja, es gibt Kollegen, die schauen dann, als hätte man verkündet, künftig Kaugummive­rpackungen sammeln zu wollen. Das Sportereig­nis des Jahres geht an den Arglosen vorbei, obwohl das Eröffnungs­spiel nicht nur wenige Meter von der früheren innerdeuts­chen Grenze entfernt stattfand, wie der ZDF-Kommentato­r anmerkte, sondern auch vom ndGebäude. Und obwohl es sich beim Handball eben um die spannendst­e Nebensache überhaupt handelt, bei der selbst deutlich unterlegen­e Gegner – etwa aus den Koreas – kunstvolle Würfe und Paraden aufweisen können, die dem Auge schmeichel­n (Seite 29).

Dass die Autorin dieser Zeilen das Spiel zu Hause ansah, hat damit zu tun, dass die Tickets 99 Euro kosteten, und dafür bekommt man schließlic­h ein Zwölftel Goldsteak – oder die Goldlöwen des Pullovers, mit denen DHBVize Bob Hanning bei der WM-Pressekonf­erenz glänzte. Spannende zwei Wochen allen Verständig­en wünscht

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