Thomas Gesterkamp Ostdeutsche und die Neigung zu Privatschulen
Immer mehr Kinder gehen auf Privatschulen, besonders im Osten Deutschlands.
Im Sommer 2017 sah sich Manuela Schwesig mit einer Welle der Empörung konfrontiert. Damals wurde öffentlich bekannt, dass die sozialdemokratische Ministerpräsidentin ihr Kind auf eine Privatschule schickt. Für ihre Entschuldigung, diese Schule sei nunmal am nächsten gelegen, erntete sie vor allem im Netz spöttische Kommentare. Schwerin, der Wohnort der Politikerin, gehört zu den Städten mit der höchsten Privatschuldichte in Deutschland. Doch auch in den Nachbarstädten Rostock und Greifswald befinden sich etwa ein Drittel der Grundschulen nicht in staatlicher Trägerschaft. Der Grund: Im von Schwesig regierten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern sind die Kontrollen der Behörden besonders lasch. Anträge auf neue private Grundschulen wurden dort in der Vergangenheit ohne genaue Prüfung durchgewunken, weiß der Bildungsforscher Marcel Helbig, der die Genehmigungspraxis der Länder für das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) verglichen hat. Dabei schreibt Artikel 7 des Grundgesetzes vor, dass private Schulen nur dann genehmigt werden dürfen, »wenn eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird«.
Nach einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat der Anteil der Akademikerkinder an Privatschulen seit Mitte der 1990er Jahre drastisch zugenommen. »Die soziale Segregation zwischen privaten und öffentlichen Schulen wird immer größer«, heißt es in der Expertise. Im bundesweiten Durchschnitt kommen 12 Prozent der Jungen und Mädchen an staatlichen Schulen aus Elternhäusern mit Hochschulabschluss. In Privatschulen liegt der Anteil erheblich höher, im Westen bei 21, im Osten gar bei 35 Prozent.
»Wir haben es mit einer Absetzbewegung der Mittelschicht von den unteren Schichten zu tun«, sagt Helbig, der auch Inhaber der Sonderprofessur Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt ist. Im Osten sei diese Entwicklung wegen der unzureichenden Prüfungen besonders brisant. In den neuen Bundesländern wuchs der Anteil der Privatschüler seit der Wende von null auf inzwischen über zehn Prozent. In der alten Bundesrepublik blieb der Anstieg von sechs auf neun Prozent im gleichen Zeitraum vergleichsweise moderat. In westlichen Bundesländern wie etwa SchleswigHolstein, so ergab die WZB-Untersuchung, sind die staatlichen Kontrollen deutlich schärfer. Der Boom der Privatschulen, so Helbig, sei ein Symptom für die Spaltung zwischen Arm und Reich, und verstärke diese noch. »In Rostock zum Beispiel befinden sich alle privaten Grundschulen im reicheren Süden, im Norden mit seinen Plattenbauten steht keine einzige.«
In der früheren DDR gab es keine privat betriebenen Schulen, sie wurden dort erst nach 1990 gegründet. In Mecklenburg-Vorpommern entstanden die meisten von ih- nen als Folge einer Schulstrukturreform vor gut einem Jahrzehnt. Alle Kinder sollten länger gemeinsam lernen, bevor sie auf weiterführende Schulen wechseln, so lautete die eigentlich gute Idee. Doch die Folge waren immer mehr Schulen in privater Trägerschaft, die nicht nur Grundschulbildung vermittelten, sondern ihr Angebot erweiterten, teilweise sogar die gymnasiale Oberstufe integrierten. »Es wurde ein Parallelsystem geschaffen und die Reform systematisch unterlaufen«, so Bildungsforscher Helbig. »Das Schulministerium hätte das nie zulassen dürfen.«
Vorschläge zum Schulgeld
Zwar werden auch die nichtstaatlichen Bildungseinrichtungen weitgehend aus öffentlichen Mitteln finanziert, doch zusätzlich fallen meist Gebühren an. 1000 Euro Schulgeld pro Jahr und Kind werden mindestens fällig, vielerorts müssen Eltern auch erheblich mehr überweisen. Privatschulen werden auf diese Weise zu einer exklusiven Angelegenheit, zu Bildungsinseln der Gutverdienenden. Nach der DIW-Studie kommt an öffentlichen Schulen jedes fünfte Kind aus einer Familie, das beim Einkommen zu den obersten 20 Prozent der Bevölkerung gehört. An den privaten Schulen dagegen hat inzwischen jedes dritte Kind wohlhabende Eltern, im Osten sogar jedes zweite.
Noch vor zwei Jahrzehnten, betont Katharina Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie am DIW, habe man kaum Unterschiede beim Privatschulbesuch zwischen Viel- und Geringverdienern feststellen können. Die Forscherin schlägt vor, das Schulgeld noch stärker an die Höhe des Einkommens zu binden, in einigen Bundesländern wird das bereits praktiziert. Der Berliner Senat plant nicht nur eine Begrenzung der Gebühren, sondern auch eine höhere Förderung jener Privatschulen, die besonders viele Kinder aus einkommensschwachen Familien aufnehmen.
»Das wäre ein Mechanismus, der funktionieren könnte«, hofft der Erfurter Bildungsforscher Helbig. Er warnt aber davor, den Einfluss des Schulgelds zu überschätzen. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel seien Gebühren gänzlich untersagt, »trotzdem sehen wir an den Grundschulen in Mainz oder Koblenz eine ähnlich starke Spaltung wie in Berlin«. Privatschulen würden eben auch unabhängig vom Schulgeld »zur Flucht aus dem öffentlichen System genutzt«. Für wichtiger hält Helbig, gerade angesichts der alarmierenden Entwicklung in Ostdeutschland, das Durchsetzen der Vorschriften des Grundgesetzes. Die Landesregierungen sollten »nicht jede Gründung einfach durchwinken, sondern prüfen, ob es diese private Schule wirklich braucht« und sich dabei »durchaus auch einmal auf einen Rechtsstreit einlassen«. Es besteht erheblicher Handlungsbedarf – gerade für Regierungschefin Manuela Schwesig in MecklenburgVorpommern.