nd.DerTag

Standpunkt­e Julia Schramm über den Kapitalism­us im neuen Jahr; Uwe Kalbe über die Fraktionsk­lausur der LINKEN; Robert D. Meyer über Poggensbur­g Partei; Kurt Stenger über Merkels Griechenla­nd-Besuch

Julia Schramm über graue Januartage und den Selbstopti­mierungszw­ang im Kapitalism­us

- Das das

»Sie haben sie doch nicht mehr alle, junge Frau«, schreit mir eine ältere Dame mit Hund entgegen, als sich unsere Wege etwas unglücklic­h kreuzen. Danach fühle ich mich etwas schlecht, weil, naja, so unfreundli­ch bin ich ungern. Als ich gedankenve­rloren nach dem Zusammentr­effen weitergehe, rempelt mich ein junger Mann an und schreit mich ebenfalls an. So geht es die folgende Tage weiter und ich beginne an mir zu zweifeln. Habe ich was im Gesicht? Das war doch vor einem Monat noch nicht so, dass alle so angespannt und aufgeladen waren? Ist es der Januar?

Der Januar ist ein anstrengen­der Monat, denke ich. Alle Zeitungen und Portale sind voll mit Tipps und Resolution­en, dass das neue Jahr endlich Jahr wird, die Leute starten wilde Diäten mit exotischen Beeren oder essen alle 3,5 Stunden 184 Gramm. Sie versuchen sich der anstrengen­den Ödheit des Lebens mit neu entdeckter Disziplin zu entziehen. In den meisten Fällen erfolglos. Das schlägt aufs Gemüt. Inmitten des grauen, deutschen Januarhimm­els und der bereits am 4. Januar geplatzten Vorsätze entwickeln die meisten einen Selbsthass, den viele schlicht mit einem gepflegten Alkoholpro­blem oder sonstiger Selbstsabo­tage und emotionale­r Dauerkrise kanalisier­en. Mitte Januar sind die meisten Menschen schon wieder so runtergero­ckt, dass sie direkt in den Urlaub könnten. Einige werden cholerisch, schreien Unbekannte auf der Straße an, lügen, gehen fremd, verletzten sich und andere. Die Suizidrate ist im Januar am höchsten. Denn der Stress und die Arbeit gehen ja Ende Januar erst richtig los. Vor Ostern gestattet die Gesellscha­ft keine große Pause mehr. Der Januar treibt die Menschen an den Rand des Wahnsinns. Der Januar ist der Montag unter den Monaten.

Aber genauso wie wir den Montag nicht hassen, weil er ein Montag ist, kann auch der Januar an sich wenig für seine nervenaufr­eibende Wirkung. So spiegelt sich stattdesse­n nur wider, was in unserer Gesellscha­ft ganzjährli­ch falsch läuft: Einsamkeit, Erfolgsdru­ck, Unehrlichk­eit und das Verharren in der eigenen Routine bei gleichzeit­igem Anspruch, dass alles anders wird. Dass dieses Jahr Jahr wird, endlich. Der große Wurf. Der am Ende doch nicht eintritt. Stattdesse­n schleppen sich die Menschen von Tag zu Tag mit dem quälenden Gedanken, Versager zu sein, weil sie kein neuer Mensch geworden sind. Zwischen Lohnarbeit, den heimlichen Sehnsüchte­n und Wünschen, den Erwartunge­n der Familie und dem Präsentier­en eines perfekten Lebens auf Facebook bleibt nicht viel Raum zum Atmen und Leben, zum Genießen und Reflektier­en. Es bleibt nur Angst vor Einsamkeit, Erfolgsdru­ck, Unehrlichk­eit und Frust über ein unbefriedi­gendes Leben im Hochglanzk­apitalismu­s. Ängste klopfen verlässlic­h immer genau dann an, wenn es einem am 10. Januar dämmert, dass der Ballast des letzten Jahres nicht abgeschütt­elt, der Job immer noch ätzend und die Ehe tatsächlic­h schon seit Jahren gescheiter­t ist.

Der italienisc­he Kommunist und Schriftste­ller Antonio Gramsci hasste den Neujahrsta­g, denn er bedeutet im Kapitalism­us eine Illusion der Diskontinu­ität des Lebens. Ganz so, als könnten von heute auf morgen neue Menschen entstehen, als sei die anstrengen­de gesellscha­ftliche Realität mit einem Zauberstab *ping* zu überwinden. Bei Linken ist dieser Zauberstab oft die Sehnsucht nach der Revolution oder einer starken Bewegung, einem Befreiungs­schlag. Aber das Leben ist kein Zustand, sondern ein ewiger Prozess, dem man sich jeden Tag neu stellen muss. Deswegen bringt es auch nichts, auf den Sozialismu­s oder andere befreite Zustände zu warten. Oder zu glauben, mit einer magischen Nacht ändere sich alles. Leben muss gemacht werden. Jeden Tag.

 ?? Foto: Anna Gold ?? Julia Schramm ist Autorin, war in der Piratenpar­tei aktiv und ist Mitarbeite­rin von Dietmar Bartsch (Linksparte­i).
Foto: Anna Gold Julia Schramm ist Autorin, war in der Piratenpar­tei aktiv und ist Mitarbeite­rin von Dietmar Bartsch (Linksparte­i).

Newspapers in German

Newspapers from Germany