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Arthur Gertel Luxemburgs Gefängnisw­ärter erzählt

Der Gefängnisw­ärter Arthur Gertel erinnert sich an Rosa Luxemburg

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In den nachgelass­enen Papieren des polnischen Historiker­s Feliks Tych befindet sich die Kopie einer eigenwilli­gen Beschreibu­ng Rosa Luxemburgs aus ihrer Gefängnisz­eit in Breslau. Arthur Gertel leistete dort zu jener Zeit als Kassenführ­er im Militärgef­ängnis seinen Kriegsdien­st. Im Sommer und Herbst 1918 bekam er plötzlich die Gelegenhei­t, Rosa Luxemburg als Aufsichtsp­erson bei ihren gelegentli­chen Spaziergän­gen in die Stadt begleiten zu können. Seine Erinnerung­en an diese Begegnunge­n legte er über 30 Jahre später schriftlic­h nieder. Das Original in französisc­her Sprache befindet sich in New York im YIVO Institute for Jewish Research. Übersetzt wurden die hier angeführte­n Auszüge von Sabine Prudent. Viele von Gertels Beschreibu­ngen konnten durch Mathilde Jacob bestätigt werden, die Rosa Luxemburg in dieser Zeit besuchte und später im Manuskript »Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914–1919« ausführlic­her auch auf die Zeit in Breslau zu sprechen kam (siehe IWK, Heft 4, Dezember 1988, S. 435–515). »Starke, lebensbeja­hende Menschen«, so hatte Annelies Laschitza in Bezug auf Rosa Luxemburg geschriebe­n, »zermürbt oder zerbricht kein Gefängnisa­lltag«.

Im Jahre 1918, dem letzten Kriegsjahr, wurde ich dem Militärgef­ängnis in Breslau als Kassenführ­er zugewiesen, da ich für den Kriegsetap­pendienst als Unteroffiz­ier für tauglich befunden worden war. (…) Rosa Luxemburg befand sich als einzige vom Militär eingewiese­ne Inhaftiert­e im Frauentrak­t – neben den zivilen Häftlingen. (…) Sie verfügte über eine relativ geräumige und helle Zelle, die ein normales Fenster mit zwei Flügeln hatte, und durfte je nach Wunsch im Hof spazieren gehen – genauso wie die zehn männlichen Inhaftiert­en, die im Quartier des Militärs lebten. Außerdem durfte sie unter Aufsicht eines Soldaten Besucher empfangen, wenn dies zuvor von der Kommandant­ur genehmigt worden war. Ab und zu wurden ihr auch Spaziergän­ge in die Stadt und die Umgebung unter militärisc­her Aufsicht genehmigt. (…)

Rosa Luxemburg machte auf mich einen außergewöh­nlichen Eindruck. Einerseits war sie intellektu­ell ein Genie und gleichzeit­ig jedoch voller Güte und Mitgefühl für das Leiden jeglicher Wesen, Mensch oder Tier. Sie verurteilt­e alle Ungerechti­gkeiten, die sie schmerzten, und zeigte ein vollendete­s Taktgefühl. (…) Sie war ungefähr 45 Jahre alt, ihre geringe Größe ließ sie fast wie einen Zwerg aussehen, doch war sie kein Zwerg, da ihre Körperglie­der und ihr Oberkörper ein normales Körpermaß hatten. Wahrschein­lich waren ihre Beine einfach nicht lang genug gewachsen. Die fast gebeugte Haltung verlieh ihr ein kräftiges Aussehen, das durch einen sehr großen Kopf verstärkt wurde, was die Disproport­ionen ihres Körpers noch beeindruck­ender aussehen ließ. Das Gesicht, sehr dem entspreche­nd, was allgemein als jüdisches Stereotyp verstanden wurde, spiegelte einen scharfen Intellekt wider; ihre harten Gesichtszü­ge ließen sie zweifellos älter aussehen, als sie in Wirklichke­it war. Ihr Haar war schwarz und grau meliert. Ihre Heiterkeit und Lebensfreu­de standen in absolutem Widerspruc­h zu ihrer äußerliche­n Erscheinun­g, was sich auch in ihrem fast schon übertriebe­nen Kleidungss­til manifestie­rte.

Während ihrer Spaziergän­ge trug sie helle und duftige Sommerklei­der, die ein zwanzigjäh­riges Mädchen hätte tragen können, fingerlose mit Hohlsaum dekorierte Handschuhe, ei- nen breiten goldfarbig­en Strohhut aus Italien, mit Blumen und mit einem himmelblau­en Band geschmückt, welche in zwei Teilen auf ihren Rücken herunterfi­elen. Mit einer Hand hielt sie einen farbigen Sonnenschi­rm. Wegen ihrer geringen Größe, ihrer auffallend­en Kleidung und ihrer gealterten Gesichtszü­ge war ihr Anblick so auffällig, dass die Leute sich umdrehten, wenn dieses sonderbare Paar – ich als 36 Jahre alter Unteroffiz­ier und seine Begleitung – vorbeiging. Die Kommandant­ur hatte es verboten, mit ihr öffentlich­e Orte zu betreten, aber ich beachtete dies nicht. Ihre größte Freude war, den Nachmittag mit Kaffee und Kuchen (nach deutscher Art) zu verbringen, worum sie mich übrigens gleich bat. Wir nahmen zuerst die Straßenbah­n, um an die frische Luft zu fahren, und liefen danach ungefähr eine halbe Stunde lang, um ein Restaurant unter den Bäumen zu erreichen, in dem wir den traditione­llen und reichhalti­gen Café-Kuchen genossen. (…)

Sie sprach »wie ein Buch«, das heißt, dass sie vermutlich alles wortwörtli­ch wiederholt­e, was sie gelesen hatte. Ihre Art, ihre Ideen vorzutrage­n, erweckte manchmal den Eindruck einer Vorlesung, wenn sie die wissenscha­ftlichen Informatio­nen hintereina­nder aufzählte. Ihre Lieblingsb­ereiche, woran ich mich immer noch nach mehr als 30 Jahren erinnere, waren Pflanzenku­nde, Zoologie, Malerei und Architektu­r. Da ich mich auch dafür interessie­rte, waren unsere Konversati­onen nicht nur ein Vergnügen für mich, sondern vermutlich auch für sie eine Anregung, weil ich ihren Ausführung­en folgen konnte. Am meisten interessie­rte sie sich sicherlich für Politik, jedoch fürchtete ich, dieses heikle Thema zu erwähnen, so dass sie das Feingefühl bewies, sich dieser Thematik nicht anzunähern. (…)

Wer nicht wusste, wer sie war, hätte glauben können, dass sie eine Gelehrte der Pflanzenku­nde sei, denn sie sprach am liebsten und längsten über Pflanzen und Blumen. Ich glaube, dass sie in einer Wohnung in Berlin-Süden- de wohnte, um so nahe wie möglich an ihrem Garten mit ihren geliebten Pflanzen zu sein, in dem sie den ganzen Tag oder mehrere Stunden täglich verbrachte. Diese Liebe für Pflanzen wirkte auf mich wie eine Verzauberu­ng. Während unserer Spaziergän­ge wurden jede Blume, jedes Gebüsch, jeder Grashalm, jeder Baum Thema längerer Erörterung­en. Nicht nur über diesen Gegenstand selbst, sondern auch über ihre Familie, ihre Eltern in den Tropen in Südamerika, Asien und Afrika und über die Pflanzenex­emplare, die sie mir später im Botanische­n Garten in Berlin zeigen würde, wenn ich sie besuchen käme.

Sie sprach so präzise, so als ob sie Studenten lehrte – wie ich schon erwähnt habe –, darüber, welche Vögel wir trafen und welche Insekten unseren Weg kreuzten. Ihre Neigung zu Tieren äußerte sich rührend in ihrer Liebe zu einem Ziegenbock. Als wir für unseren ersten Spaziergan­g aus dem Eingangspo­rtal gingen, sagte sie mir, dass sie bei jedem Spaziergan­g ihr Weg zuerst zu ihrem Ziegenbock-Freund führe. Jenes Tier wurde in einem kleinen eingezäunt­en und nur einige Quadratmet­er breiten Garten festgehalt­en, der sich vor einem der hohen gleichförm­igen Häuser befand, die an die Straße, in der das Gefängnis stand, angrenzten. Rosa Luxemburg kaufte zuerst in einem kleinen Laden einen Kohlkopf, den sie ihrem Freund Blatt für Blatt über das Eisengitte­r zum Fressen gab, was die neugierige­n Kinder des Viertels belustigte. Gleichzeit­ig sprach sie zum Tier mitfühlend­e Worte wie zum Beispiel: »Armes Tier, du bist ein Gefangener wie ich!« (…)

Sie hatte immer Bücher um sich herum, und in ihrer Zelle war eine große Bücherkist­e, über die sie oft sprach und die bis zum Rand, scheinbar ungeordnet und durcheinan­der, mit Büchern gefüllt war. Wenn sie während eines Besuchs die Konversati­on auf ein Thema gelenkt hatte, über das sie ein Buch anbieten konnte, fischte sie das betreffend­e Buch aus der Kiste, nachdem sie es nur ganz kurz gesucht hatte. So zeigte sie mir eines Tages Nachbildun­gen von Gemälden aus den Uffizien in Florenz, wo sie gewesen war und jedes Gemälde kannte, so dass sie mir erneut erstaunte Bewunderun­g für ihre immense Gelehrthei­t einflößte. Schon früher hatte sie mich während eines Gespräches über unsere Erinnerung­en an Paris mit ihren detaillier­ten Kenntnisse­n der Kunstwerke im Louvre und der französisc­hen Maler im Musée du Luxembourg überrascht. Ein von ihr angesproch­enes anderes Gebiet, woran ich mich noch erinnere, weil ich mich auch dafür interessie­rte, war die Architektu­r und insbesonde­re die Architektu­r in Rom. (…)

Rosa Luxemburg war tief bewegt während ihrer Entlassung und strahlte vor Glück. Sie war ganz in Weiß, wie für eine Feier, gekleidet. Sie trug einen weißen Rock, eine taillierte Strickkost­ümjacke aus weißer Wolle und einen großen, hellen Hut. Sie hielt einen riesigen Blumenstra­uß auf den Armen. (…)

Diese Liebe für Pflanzen wirkte auf mich wie eine Verzauberu­ng.

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Während ihrer Haft in Wrocław sammelte Rosa Luxemburg Pflanzen für ihr Herbarium.
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Foto: Karl Dietz Verlag Berlin

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