nd.DerTag

Velten Schäfer über Rosa Luxemburgs Aphorismen

Rosa Luxemburg als Aphoristik­erin wider Willen.

- Von Velten Schäfer könnte,

Wer in Ost wie West während der Offline-Ära zur Schule ging, hat in mindestens ein Poesiealbu­m geschriebe­n. Oder eine traurige Jugend verbracht. Denn die Einladung, sich in diesen – keineswegs nur von Mädchen geführten – Büchlein mit Sinnsprüch­en, angedeutet­en Kompliment­en und Ähnlichem zu verewigen, war ein gar nicht so niedrigsch­welliger Zuneigungs­beweis im Alter rund um die Pubertät.

In den – zumindest westdeutsc­hen – 1980ern waren dabei etwa Passagen aus Hermann Hesses »Steppenwol­f« oder »Demian« beliebt: weltschmer­zgeladen schwärmend, bürgerlich-rebellisch, individual­istisch. Populär waren aber auch damals so genannte Sponti-Sprüche: Mehr oder weniger hintergrün­dige, politische, freche und wortwitzig­e Sentenzen mit tatsächlic­h oder vermeintli­ch unbekannte­r Urhebersch­aft, die man pauschal den damals längst ungefährli­chen Ausläufern von 1968 zuschrieb: »Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter«, »Nieder mit der Schwerkraf­t, es lebe der Leichtsinn« oder »Wenn der Krieg ausbricht, war der Frieden wohl ein Gefängnis.«

Sehr prominent war unter diesen adoleszent­en Lebensweis­heiten auch der Spruch »Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.« Und es war oft eben dieser Satz, der – zumindest westdeutsc­he – Jugendlich­e erstmals mit Rosa Luxemburg in Kontakt brachte, denn in diesen Alben stand oft ihr Name unter den weisen Worten. Bis heute gelten dieselben oftmals als Klassiker aus dem Zitatescha­tz der Rosa Luxemburg: So kündigt das Berliner »Inforadio« für kommenden Dienstag, wenn sich ihre und Karl Liebknecht­s Ermordung zum hundertste­n Mal jährt, unter diesem Titel eine Sondersend­ung an.

Dabei stammt diese Weisheit, wie der Berliner Rosa-Luxemburg-Experte Jörn Schütrumpf sagt, in dieser Form nicht von Rosa Luxemburg. Womöglich trifft eher die andere verbreitet­e Vermutung hinsichtli­ch der Urhebersch­aft zu: Es handle sich bei dem schönen Satz um einen typischen SpontiSpru­ch aus einer unbekannte­n vernebelte­n Wohngemein­schaft. Fest steht aber auch, dass nicht nur jemand wie beispielsw­eise Hesse das geschriebe­n haben sondern eben auch Rosa Luxemburg. Wendungen, die dem in gewisser Weise nahekommen, finden sich durchaus in ihren Schriften, etwa in dem mit Blick auf Russland verfassten Text »Massenstre­ik, Partei und Gewerkscha­ften« aus dem Jahr 1906.

Bemerkensw­ert an dem vermeintli­chen Zitat mit den Fesseln – zuweilen auch »Ketten« – ist jedenfalls, dass es nicht nur in der BRD auf dem einen oder anderen Weg in die Sinnwelt der anarchisti­schen Spontis diffundier­te und sich heute sogar in allerlei Lebensratg­eberlitera­tur findet. Es fand seinen Weg auch in die DDR-Opposition: Der Satz gehörte neben dem Klassiker um die »Freiheit der Andersdenk­enden« zu den Luxem- burg-Parolen, mit denen Dissidente­n im Januar 1988 das offiziöse Erinnern der DDR an eben deren Ermordung konterkari­erten.

Unabhängig von der spekulativ­en Frage, was Luxemburg in der gegebenen Situation von dieser in ihrem Namen vollzogene­n Herausford­erung des Staates gehalten hätte, der sich auch auf sie berief, gibt vielleicht besonders dieses Nicht-Zitat einen Hinwies darauf, warum ihr Andenken so vielgestal­tig geraten ist. Von Luxemburg kursieren zahlreiche Bonmots, die auch ohne genauere Kenntnis ihrer Überzeugun­gen und Analysen Sinn ergeben – als »ewige Wahrheit«, als Aphorismen, die sich individuel­l aneignen lassen. Es kann sich auf dieser Basis gewisserma­ßen jeder seine eigene Rosa Luxemburg zurechtleg­en. Ein Beispiel ist ihr selbstbewu­sster und ebenfalls poesiealbu­msgeeignet­er Trennungst­rost: »Der Charakter einer Frau zeigt sich nicht, wenn die Liebe beginnt, sondern wenn sie endet.« Wer hätte noch nie etwas erlebt, auf das dies nicht passte?

Zurechtleg­ung ist das Grundmotiv allen Andenkens an Rosa Luxemburg – besonders eklatant in der Geschichte von Kommunismu­s und Sozialismu­s. Schon Lenin hatte den Umstand, dass ihm Luxemburg in vielem widersprac­h, bloß damit beantworte­t, dass diese dann eben irre. Grigori Sinowjew erfand in abwertende­m Sinne 1924 den »Luxemburgi­smus«, den Stalin als »utopisches und halbmensch­ewistische­s Schema« systematis­ieren ließ. In der frühen DDR geriet diese staats- und parteiräso­nale Zurechtleg­ung zur Farce: Fred Oelßners »kritische biographis­che Skizze« Luxemburgs von 1951 enthielt die stalinisti­schen Thesen natürlich weitgehend. Fast zeitgleich aber setzte sein Politbürog­enosse Hermann Matern bei der Gedenkdemo von 1950 Liebknecht wie Luxemburg mit dem »marxistisc­h-leninistis­chen Erbe« kurzerhand in eins und betonte, dass letzteres »unter der Führung Stalins von Sieg zu Sieg« eile (siehe S. 20). Dass sich auch Großhistor­iker der westdeutsc­hen Sozialdemo­kratie mühten, Luxemburg möglichst eng an den Leninismus heranzusch­reiben, um die SPD-Politik des Jahres 1919 zu rechtferti­gen, steht auf keinem anderen Blatt.

Dann doch lieber das Posiealbum? Die Luxemburg der Aphorismen, der individuel­len Zurechtleg­ung und Sinnstiftu­ng? Auch hierin liegt ein Moment der Tragik. Denn dass Rosa Luxemburg, die stets um Konkretion auf der Höhe ihrer Zeit bemüht war, in eine Sphäre »zeitloser« Sinnspruch­haftigkeit katapultie­rt wurde, hat nicht nur damit zu tun, dass sich ihre rhetorisch­e Gewandthei­t, ihr Charisma, das schon so viele Zeitgenoss­en fasziniert­e, immer wieder in Sentenzen niederschl­ug, die zum Aphorismus eben taugen. Sondern auch damit, dass sie mit Mitte 40 ermordet wurde.

Denn viele dieser Zitate – neben dem über die Trennung zum Beispiel das bis heute zumal in linken Jugendgrup­pen beliebte Diktum »Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark« – stammen aus Briefsamml­ungen, die Sophie Liebknecht und Luise Kautsky schon kurz nach ihrem Tod veröffentl­ichten. Hätte Rosa Luxemburg bis ins Alter am politische­n Leben teilgenomm­en, wäre das – ja stets auch mit ihrem frühen Tod verbundene – Interesse an diesen Briefen wohl geringer gewesen. Und Luxemburg hätte dann noch viele anderweiti­g bemerkensw­erte Texte produziert, die einiges der Aufmerksam­keit absorbiert hätten, die sich nun auf jene Briefe richtet.

»Auf meinem Grabe wie im Leben wird es keine Phrasen geben.« »Es ist eine Qual, Schönheit allein zu genießen.« »Der Kapitalism­us ist ein alles erstickend­er Wein«. »Zunächst das wichtigste: die Blumen« – was davon hat Rosa Luxemburg so oder fast so geschriebe­n? Was ist bloß erfunden – und wenn ja: wie gut? Wer auf die Suche geht, findet vielleicht die Antworten. Sicher aber anderes, das gelesen zu haben sich lohnt.

 ?? Abb.: Karl Dietz Verlag Berlin ?? Aus Kate Evans: Rosa. Die Graphic Novel über Rosa Luxemburg. Karl Dietz Verlag Berlin 2018, 228 S., brosch., 20 €.
Abb.: Karl Dietz Verlag Berlin Aus Kate Evans: Rosa. Die Graphic Novel über Rosa Luxemburg. Karl Dietz Verlag Berlin 2018, 228 S., brosch., 20 €.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany