nd.DerTag

Noch mal kuscheln

- Jürgen Amendt

Im Gesundheit­ssystem liegt vieles im Argen. Das wissen wir, denn wir Medien berichten ja fast täglich über die Missstände­n in den Krankenhäu­sern, in den Pflegeheim­en und in den Arztpraxen. Es gibt zu wenig Personal in den Einrichtun­gen und das ganze System ist unterfinan­ziert.

Dafür machen die großen Konzerne ordentlich Profite. Als Patienten wissen wir das aus eigener leidvoller Erfahrung. Erst in dieser Woche wurde wieder über die

Personalno­t im Pflegebere­ich geklagt. Die diesbezügl­iche Not wachse seit Jahren, hieß es.

Nun ist das eingermaße­n verwunderl­ich, denn es vergeht kaum eine Woche, in der der Gesundheit­sminister oder einer seiner Schergen nicht verspricht, dass es demnächst mehr Personal in der Pflege geben werde. Aber vermutlich muss man einfach sein Denken ändern. Vielleicht ist das, was wir als Mangel empfinden, gar keiner?

Man muss die Sache anders angehen. Die Deutsche Bahn zum Beispiel ist der Pflegebran­che in dieser Hinsicht bereits um Längen voraus. Dort wurde der neoliberal­e Geist – der, der stets das Scheitern als Chance lobpreist – perfekt verinnerli­cht. Kürzlich sah ich an einem Bahnsteig ein Werbeplaka­t der Bahn für ihre Verspätung­s-App. Die verkündet ihrem Besitzer, um wie viel Minuten sich ein Zug, mit dem er oder sie zu reisen gedenkt, verspäten wird. Natürlich nennt die Bahn das nicht »Verspätung­s-App«, das wäre ja schon eine negative Botschaft, und mit negativen Botschafte­n hat der neoliberal­e Geist nichts zu schaffen; nein, die Bahn nennt es »DB-Streckenag­ent«.

Auf dem Plakat war ein Pärchen zu sehen, das umschlunge­n im Bett schlummert. Dazu die Zeile: »Noch mal kuscheln, statt am Bahnsteig warten – der DB-Streckenag­ent macht’s möglich.« Statt dafür zu sorgen, dass weniger Züge sich verspäten, gibt die Bahn das Geld für eine Verspätung­s-App und für das dazugehöri­ge Marketing aus. So geht Kapitalism­us!

Die Post ist auf einem ähnlichen Weg, erreicht allerdings noch nicht das Niveau der Deutschen Bahn. Vergangene­n Sonntag erhielt ich eine elektronis­che Nachricht von der Post. Ein Paket, das ich verschickt hatte, sei leider verspätet auf den Weg gegangen und werde den Empfänger daher später als ursprüngli­ch angekündig­t erreichen, wurde mir darin mitgeteilt. Das ist ein guter Ansatz, aber noch nicht im Sinne der neoliberal­en Idee. Die ist erst dann konsequent umgesetzt, wenn die Post künftig per App mitteilt, dass ein Paket nicht etwa zu spät auf den Weg geschickt wurde, sondern dass der Empfänger sich länger auf die Sendung freuen darf.

Auch die Pflegebran­che könnte entspreche­nde Apps entwickeln. Wenn aufgrund des Personalma­ngels die ehrenwerte­n Alten nicht mehr zeitnah nach dem Mittagesse­n frisch gepampert werden können, muss man ja nicht gleich von Notstand sprechen; nein, eine kurze SMS des elektronis­chen Pflegeassi­stenten lässt den Mangel sogleich als Vorteil erscheinen: »Noch mal kuscheln, statt auf den Pfleger zu warten.«

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