Die Datenspur in der Natur
Über die Wirkung der Digitalisierung auf die Umwelt und den Energieverbrauch.
Die Industrialisierung ist die zweite »große Transformation« in der Menschheitsgeschichte, angetrieben durch die immense Nutzung fossiler Rohstoffe wie Kohle und Erdöl. In den letzten Jahrzehnten hat dieser Prozess der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen eine solche Dynamik erlangt, dass Forscher von einem neuen Erdzeitalter, dem »Anthropozän«, sprechen. Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) haben die Mechanismen dieser Beschleunigung genauer untersucht und als zentralen neuen Treiber den Umgang mit der Ressource »Daten« – die Digitalisierung mithilfe der Computertechnik – ausgemacht. Erst durch die massenhafte Verbreitung der Informationstechnik sei die Überschreitung der »planetaren Grenzen« ökologischer Nachhaltigkeit möglich geworden. Ihr neues Paradigma, den Wandel der Welt zu verstehen, nennen die Forscher »Geo-Anthropologie« und schlagen die Gründung eines eigenen Forschungsinstituts vor, das sich den »Perspektiven für die Erhaltung des Lebensraums Erde« widmen soll.
»Was das heutige Verständnis über den Einfluss der digitalen Transformation betrifft, so sind wir etwa auf dem gleichen Wissensstand, auf dem sich die Klimaforschung vor 30 Jahren befunden hat«, schreiben die Max-Planck-Wissenschaftler Christoph Rosol, Benjamin Steininger, Jürgen Renn und Robert Schlögl in ihrem Aufsatz »On the age of computation in the epoch of humankind« (»Vom Computerzeitalter in der Epoche der Menschheit«), der vor wenigen Wochen in der Wissenschaftszeitschrift »Nature« erschienen ist. Ihr Ansatz verknüpft ausdrücklich die zwei Kulturen der Wissenschaft: der Chemiker Schlögl ist Direktor des Berliner Fritz-Haber-Instituts für physikalische Chemie der MPG, Jürgen Renn leitet das ebenfalls in Berlin ansässige Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Die Digitalisierung wirkt heute in doppelter Weise auf die Umwelt. Zum einen beschleunigt sie herkömmliche Prozesse der Produktion und des Handels von Waren ganz erheblich. Stichworte: Fabrik 4.0 und ECommerce. Zum anderen ist sie selbst durch ihren Energiebedarf ein immenser ökologischer Faktor. Wäre das Internet ein Land, so käme es mit seinem Energieverbrauch mit 2500 Terawattstunden pro Jahr in der Weltrangliste auf Platz drei – nach den USA und China. »Weltweit verbraucht das Internet rund zehn Prozent des Stroms, in Deutschland sind es rund acht Prozent«, erklärt der Berliner Nachhaltigkeitsforscher Tilman Santarius, der im November 2018 die Konferenz »Bits und Bäume« an der Technischen Universität Berlin ins Leben gerufen hat. Bis 2030 soll sich Prognosen zufolge der Energieverbrauch für den Cyberspace weltweit mehr als verdreifachen – und dann bei über 8000 Terawattstunden liegen, getrieben durch die Speicherung und die rasant wachsende Übertragung von Datenmengen. Videostreaming macht bereits mehr als die Hälfte des globalen Internetverkehrs aus. Und diese Zahlen gelten nur für den Betrieb; die Energie für die Geräteherstellung kommt noch hinzu. So hat die Produktion der rund zehn Milliarden Smartphones in den Jahren 2007 bis 2017 nach Schätzungen von Santarius fast doppelt so viel Strom gekostet wie Deutschland in einem Jahr verbraucht.
»Die Digitalisierung als Motor des globalen Wandels ist für uns ein Modellfall für die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Erdsystem und technischen sowie gesellschaftlichen Faktoren«, erklärt Coautor Christoph Rosol vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Der theoretische Ansatz soll den Praktikern in Politik und Wirtschaft wirksamere Maßnahmen gegen Klimawandel und Artensterben ermöglichen. »Die Zusammenhänge sind auf gesellschaftlicher Ebene hochgradig komplex«, erläutert Rosol. »Wir müssen zunächst die Tiefenstruktur und die historischen Pfadabhängigkeiten unserer modernen hochindustrialisierten Gesellschaften verstehen, ehe es uns gelingen wird, etwa unsere Energieversorgung und Mobilität an die Klimaschutzziele anzupassen.« Ein Beispiel ist der Weg in die fossile Energiewirtschaft, der im 19. Jahrhundert eingeleitet wurde. Die Max-PlanckForscher zeigen auf, wie sich auch die Kolo- nialgeschichte und die kapitalistische Wirtschaftsform auf den Wandel des Energiesystems auswirkten. »Das war ein sich selbstverstärkender, aber auch sehr vom historischen Zufall geprägter Prozess«, bemerkt Rosol.
Aber es soll nicht bei geschichtswissenschaftlicher Betrachtung bleiben. »Wenn wir aus historischer und kultureller Perspektive auf Transformationen in der Energiewirtschaft blicken, können wir vielleicht Handlungsempfehlungen geben, wie dieses Dilemma zu lösen ist«, schlägt Rosol den Bogen zur Praxis. Erster Schritt im Anwendungsfeld ist indes, alte Denkmuster, die besagten »Pfadabhängigkeiten«, aufzubrechen. Besonders drängend sind Kursänderungen im Energiebereich, die Energiewende, mit vielen Ansätzen zum Umstieg auf erneuerbare Energiequellen.
Letztlich müssen diese Fragenstellungen und Herausforderungen in einem konzentrierten Ansatz wissenschaftlich behandelt werden. Der Leiter des Wuppertal Instituts für Klima Umwelt Energie, Uwe Schneidewind, hat in seinem neuen Buch »Die große Transformation« insgesamt sieben technische und gesellschaftliche »Wenden« identifiziert, die es zu meistern gilt, um in einen Zustand der Nachhaltigkeit zu gelangen: von der Energieund Ressourcenwende über die Wende im Verkehrsbereich bis hin zu gewandelten Ernährungs- und Konsummustern.
»Was wir brauchen, ist unabhängige Grundlagenforschung in einem Bereich, der stark durch technologische Entwicklungen und angewandte Wissenschaften geformt wird«, postuliert das MPG-Papier. Für eine derartige Forschung müssten traditionelle Grenzen überwunden werden, um die derzeitige Situation mit all ihren vernetzten Phänomenen und Problemen zu begreifen. »Eine derartige Forschungsperspektive wollen wir ›Geo-Anthropologie‹ nennen, also die Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Erdsystem«. Diese integrative Wissenschaft »Geo-Anthropologie« solle die verschiedenen Mechanismen, Dynamiken und Entwicklungspfade untersuchen, die in das Zeitalter des Anthropozäns geführt haben.
Der nächste Schritt wäre, dem neuen Wissenschaftsfeld auch einen neuen institutionellen Rahmen zu geben, ein Forschungsinstitut. Bei der Max Planck-Gesellschaft hatte es den Zuschnitt einer breit aufgestellten und in die Zukunft gerichteten Denkstätte schon einmal gegeben: das »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt«, das 1970 für den Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg eingerichtet wurde. Den sozialwissenschaftlichen Part dort personifizierte der Soziologe Jürgen Habermas. Wie weit und auch wie schnell die Max-Planck-Gesellschaft in ihrer Münchner Generalverwaltung dem Vorstoß ihrer Berliner Vordenker folgen mag, wird sich zeigen.
Immerhin gibt es im universitären Raum schon Bewegung. An der Universität Tübingen wurde zum Jahresbeginn eine »Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftungsprofessur« eingerichtet, die aus Mitteln der Udo-KellerStiftung »Forum Humanum« finanziert wird. Auf die Professur wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2019 der Mathematiker, Informatiker und Philosoph Reinhard Kahle berufen. Die Professur gehört zu einem neuen Zentrum für internationale Gastwissenschaftler, dem »College of Fellows«, das in den nächsten Jahren aufgebaut werden soll. »Unser Ziel ist es, mit dem College eine Einrichtung zu schaffen, die als kreatives und lebendiges Zentrum des wissenschaftlichen Austauschs kluge Köpfe aus aller Welt anlockt und die Universität Tübingen in ihrer Gesamtheit befruchtet«, erklärte Uni-Rektor Professor Bernd Engler zur Eröffnung. »Wir stehen am Beginn einer Epoche, die dem Menschen überaus mächtige Werkzeuge zur Verfügung stellt«, ergänzte er und nannte als Beispiele Genom-Editierung und Künstliche Intelligenz. Es sei eine zentrale Aufgabe von Universitäten, rechtzeitig nicht nur auf mögliche Nutzanwendungen, sondern auch auf das zerstörerische Potenzial neuer Werkzeuge hinzuweisen: »Für diese kritische Reflexion ist die Universität Tübingen der richtige Ort.«