Verbrechen systematisch aufgearbeitet
Über die »Instanz für Wahrheit und Würde«
Die Verbrechen der Diktatur stehen sauber aneinandergereiht in Tausenden Pappordnern, sie stapeln sich bis hoch an die Decke. 62 000 Dossiers sind es insgesamt, eines der Metallregale ist unter der Last schon eingeknickt. In den Dokumenten wird beschrieben, wie unliebsame Tunesier einst wie Grillhähnchen an Stangen aufgehängt und gefoltert wurden. Wie ihnen die Genitalien mit Säure verstümmelt wurden. Wie sie bei lebendigem Leib mit kochendem Wasser verbrüht wurden.
Zum ersten Mal hat mit Tunesien ein arabisches Land systematisch die Verbrechen vergangener Diktaturen aufgearbeitet und 54 besonders gravierende Fälle an die Justiz übergeben. Viereinhalb Jahre hat die »Instanz für Wahrheit und Würde« (IVD) Zehntausende Interviews geführt und Akten gesichtet – aus 56 Jahren Diktatur. Zum Jahresende lief das Mandat der IVD aus. Das tunesische Parlament hat eine Verlängerung abgelehnt. Denn nicht alle wollen die Geschichte aufarbeiten.
Vor dem schmucken Glasgebäude in der Hauptstadt Tunis stehen Demonstranten im kalten Nieselregen, während drinnen die IVD ihren Abschlussbericht vorstellt. Es sind verschiedene Gruppen, die da versuchen, für ihre Rechte einzutreten: Jene, die gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit sind, und die, die befürchten, dass ihnen keine Gerechtigkeit mehr widerfahren wird.
Die Aufarbeitung ist schwierig. Seit der Einsetzung der Kommission im Dezember 2013 kämpft die IVD mit internen Querelen und politischen Angriffen. Schon kurz nach ihrer Einsetzung forderte der heutige Präsident Béji Caïd Essebsi, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Das Tunesien von heute müsse nach vorne blicken. Caïd Essebsi war selbst während der Präsidentschaft von Habib Bourguiba Innen- und Verteidigungsminister, später, zur Amtszeit von Ben Ali, Außenminister. Viele, die unter Bourguiba und Ben Ali als Beamte in Tunesien tätig waren, sind weiter in ihren Ämtern – vor allem aus der Regierungspartei Nidaa Tounes.
Als IVD-Präsidentin Sihem Bensedrine Mitte Dezember die wichtigsten Punkte ihrer Arbeit vorstellte, war der Zuschauerraum gefüllt. Doch weder der Staatspräsident noch ein Vertreter der aktuellen Regierung hörte sich an, welche Schlüsse Bensedrine aus den Verbrechen der Vergangenheit zieht. »Wir sind alle Tunesier, wir müssen alle hier zusammen leben«, sagt sie. »Aber bis zuletzt versucht das alte Regime, die Arbeit zu boykottieren.«