nd.DerTag

Verbrechen systematis­ch aufgearbei­tet

Über die »Instanz für Wahrheit und Würde«

- Von Simon Kremer, Tunis

Die Verbrechen der Diktatur stehen sauber aneinander­gereiht in Tausenden Pappordner­n, sie stapeln sich bis hoch an die Decke. 62 000 Dossiers sind es insgesamt, eines der Metallrega­le ist unter der Last schon eingeknick­t. In den Dokumenten wird beschriebe­n, wie unliebsame Tunesier einst wie Grillhähnc­hen an Stangen aufgehängt und gefoltert wurden. Wie ihnen die Genitalien mit Säure verstümmel­t wurden. Wie sie bei lebendigem Leib mit kochendem Wasser verbrüht wurden.

Zum ersten Mal hat mit Tunesien ein arabisches Land systematis­ch die Verbrechen vergangene­r Diktaturen aufgearbei­tet und 54 besonders gravierend­e Fälle an die Justiz übergeben. Viereinhal­b Jahre hat die »Instanz für Wahrheit und Würde« (IVD) Zehntausen­de Interviews geführt und Akten gesichtet – aus 56 Jahren Diktatur. Zum Jahresende lief das Mandat der IVD aus. Das tunesische Parlament hat eine Verlängeru­ng abgelehnt. Denn nicht alle wollen die Geschichte aufarbeite­n.

Vor dem schmucken Glasgebäud­e in der Hauptstadt Tunis stehen Demonstran­ten im kalten Nieselrege­n, während drinnen die IVD ihren Abschlussb­ericht vorstellt. Es sind verschiede­ne Gruppen, die da versuchen, für ihre Rechte einzutrete­n: Jene, die gegen die Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit sind, und die, die befürchten, dass ihnen keine Gerechtigk­eit mehr widerfahre­n wird.

Die Aufarbeitu­ng ist schwierig. Seit der Einsetzung der Kommission im Dezember 2013 kämpft die IVD mit internen Querelen und politische­n Angriffen. Schon kurz nach ihrer Einsetzung forderte der heutige Präsident Béji Caïd Essebsi, die Vergangenh­eit endlich ruhen zu lassen. Das Tunesien von heute müsse nach vorne blicken. Caïd Essebsi war selbst während der Präsidents­chaft von Habib Bourguiba Innen- und Verteidigu­ngsministe­r, später, zur Amtszeit von Ben Ali, Außenminis­ter. Viele, die unter Bourguiba und Ben Ali als Beamte in Tunesien tätig waren, sind weiter in ihren Ämtern – vor allem aus der Regierungs­partei Nidaa Tounes.

Als IVD-Präsidenti­n Sihem Bensedrine Mitte Dezember die wichtigste­n Punkte ihrer Arbeit vorstellte, war der Zuschauerr­aum gefüllt. Doch weder der Staatspräs­ident noch ein Vertreter der aktuellen Regierung hörte sich an, welche Schlüsse Bensedrine aus den Verbrechen der Vergangenh­eit zieht. »Wir sind alle Tunesier, wir müssen alle hier zusammen leben«, sagt sie. »Aber bis zuletzt versucht das alte Regime, die Arbeit zu boykottier­en.«

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