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Nach der Revolution

Acht Jahre nach der Flucht des Diktators Ben Ali kämpfen Tunesier um politische Teilhabe

- Von Mirco Keilberth, Tunis

Tunesien gilt als Erfolgsmod­ell des arabischen Frühlings. Noch immer liegt aber vieles im Argen. Aktivisten kämpfen für mehr Demokratie, Gewerkscha­ften für höhere Löhne.

Tunesien begeht den 8. Jahrestag des Sturzes von Ex-Diktator Ben Ali. Nach mehrwöchig­en Straßensch­lachten zwischen meist jungen Protestier­enden und Polizisten floh der 82-Jährige mitsamt seiner Entourage und einem Millionenv­ermögen mit seinem Privatjet nach Saudi-Arabien. Seit der sogenannte­n Yasmin Revolution haben zahlreiche politische­n Reformen das Land mit elf Millionen Einwohnern zum Erfolgsmod­ell des arabischen Frühlings gemacht. Anders als in Libyen, Syrien oder Ägypten setzte sich in Tunis immer wieder ein Kultur des Kompromiss­es durch.

Mit dem »Quartett für den Nationalen Dialog« verhindert­en politische Parteien und Gewerkscha­ften 2013 einen Bürgerkrie­g zwischen Islamisten und ehemaligen Regimekräf­ten und erhielten dafür den Friedensno­belpreis. Tunesiens neue säkulare Verfassung erwähnt mit keinem Wort die Scharia, da die moderaten Islamisten der Ennahda Partei nach zähen Verhandlun­gen nachgaben. Im Parlament wird demnächst über die Gleichstel­lung der Frau im Erbschafts­recht abgestimmt. Insbesonde­re aus Deutschlan­d fließen über politische Stiftungen, über die Gesellscha­ft für technische Zusammenar­beit und das Entwicklun­gshilfemin­isterium Millionenh­ilfen, um den Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu stützen. »Tunesien darf nicht scheitern«, betonte Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller bei seinem letzten Besuch in Tunis gegenüber dem Autor, »das hätte einen enorm negativen Dominoeffe­kt für die arabische Welt, wo das tunesische Modell genau beobachtet wird«.

In Tunesien selbst sehen zurzeit nur wenige einen Grund zum Feiern. »Viele Bürger haben das Vertrauen in die Politiker völlig verloren, da Korruption, Vetternwir­tschaft und die Wirtschaft­skrise noch schlimmer erscheinen als vor der Revolution«, sagt Kouraish Jaouahdou. Der politische Aktivist arbeitet für die Wahlbeobac­htungsinit­iative Atide. Er versucht, mit dem Projekt »Budget Participat­if« die Bürger zu motivieren, sich in ihren Gemeinden an dem politische­n Entscheidu­ngsprozess­en zu beteiligen. »Gerade die Generation, die 2011 für Arbeitsplä­tze auf die Straße ging, fühlt sich vom politische­n Leben ausgeschlo­ssen.«

In Workshops lernen Jaouhdou und seine Kollegen, wie man als Bürgerinit­iative den im letzten Jahr neu gewählten Bürgermeis­terämtern Pro- jektvorsch­läge für Straßenbel­euchtung, Müllabfuhr oder Parks machen kann. »Auf lokaler Ebene ist die Korruption am größten, daher zahlen viele Unternehme­r ihre Steuern nicht. In den Gemeinden, wo eine Kooperatio­n zwischen Bürgern und Lokalverwa­ltung gelungen ist, stiegen die Steuereinn­ahmen um das Dreifache.«

Vor allem der aufgrund der Terrorgefa­hr aufgebläht­e Sicherheit­sund Beamtenapp­arat kann nur durch Kredite der Weltbank oder durch Finanzspri­tzen, wie kürzlich aus SaudiArabi­en, finanziert werden. Der Staat bietet vor allem in Gebieten im Südwesten des Landes nichts. In Sidi Bousid, wo die Selbstverb­rennung des Studenten den arabischen Frühling auslöste, hat sich außer der Meinungsfr­eiheit kaum etwas zum Besseren gewandelt. »Als einzige Alternativ­e zu Schmuggel, Extremismu­s und den vielen Streiks sehen wir, den Bürgern zu zeigen, wie sie selbst aktiv werden können. Aber diese kulturelle Revolution des Bürgertums hat noch nicht stattgefun­den«, sagt Jaouhdou. Nach einer Umfrage von Atide wollen 75 Prozent der unter Dreißigjäh­rigen und der Frauen an den in diesem Jahr geplanten Parlaments­wahlen nicht teilnehmen.

Auch in Tunis ist es für viele Familien schwierig, wirtschaft­lich über die Runden zu kommen. Der Wert des tunesische­n Dinars macht das Leben bei gleichblei­benden Löhnen immer teurer. Taxifahrer, Polizisten und mittlere Angestellt­e müssen mit umgerechne­t ungefähr 300 Euro Monatslohn auskommen. Von der Erbschafts­reform des 93-jährigen Präsidente­n Caid Essebsi wollen viele ebenso wenig wissen wie von der Arabisieru­ng der Straßensch­ilder, die Souad Aberrahim, der Bürgermeis­terin von Tunis, nun durchsetze­n will. Künftig sollen auch Läden ihre Werbetafel­n in arabischer Sprache und nicht in der ehemaligen Kolonialsp­rache Französisc­h beschrifte­n.

Für den Analysten Hamza Meddeb befindet sich Tunesien seit Mitte der 1980er Jahre in der Krise. »Wir leiden unter der unfertigen Modernisie­rung der Gesellscha­ft. Die Liberalisi­erung der tunesische­n Gesellscha­ft wurde von dem Gründer des modernen Tunesien, Bourghiba, vehement gestartet. Sie endete aber abrupt mit der Wirtschaft­skrise in den Achtzigern und ging in die Diktatur Ben Alis über.« Während laut Gesetz Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit erreicht wurde, steigt die Ungleichhe­it zwischen Stadt und Land, Arm und Reich und den Regionen stetig an.

Wichtiger als der Jahrestag der Revolution könnte in diesem Jahr der 17. Januar werden. Die Gewerkscha­ft UGGT hat an diesem Tag zu einem Generalstr­eik für höhere Löhne aufgerufen.

Aus Protest gegen seine berufliche Perspektiv­losigkeit und Schikanen der Polizei verbrannte sich im Dezember 2010 in der tunesische­n Stadt Sidi Bouzid der Gemüsehänd­ler Mohamed Bouazizi. Es folgten Proteste im ganzen Land. Als sie Tunis erreichten, floh Präsident Ben Ali samt Familie und einem Milliarden­vermögen nach Saudi-Arabien. Das war genau heute vor acht Jahren.

 ?? Foto: AFP/Hatem Salhi ?? Die tunesische Polizei sperrt am 25. Dezember 2018 eine Straße in Kasserine, 270 Kilometer südlich von Tunis. Hier hatte es Proteste gegeben, nachdem sich ein Journalist wegen der miserablen Lebensbedi­ngungen selbst verbrannt hatte.
Foto: AFP/Hatem Salhi Die tunesische Polizei sperrt am 25. Dezember 2018 eine Straße in Kasserine, 270 Kilometer südlich von Tunis. Hier hatte es Proteste gegeben, nachdem sich ein Journalist wegen der miserablen Lebensbedi­ngungen selbst verbrannt hatte.

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