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Ein Rabbiner namens Löwenstein

Im Schicksal der Familie Luxemburg spiegelt sich ein Teil der bewegten, tragischen osteuropäi­schen Geschichte

- Von Holger Politt, Warschau

Ein Onkel Rosa Luxemburgs, Bernard Löwenstein, war viele Jahre lang Rabbiner in Lemberg und eine der prägenden Gestalten des Judentums in Galizien.

Rosa Luxemburg ist die erste in ihrer Familie gewesen, die im Januar 1919 aus politische­n Gründen gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Mehr als zwei Jahrzehnte später werden weitere Angehörige der Familie folgen, die allerdings nicht auf der politische­n Barrikade gestand haben. Die Spur der Familienge­schichte wird schließlic­h Orte wie Treblinka, Auschwitz, Majdanek und Katyn erreichen.

Damit wurde auch in dieser Familie vielfach der Weg brutal beendet, der im tiefen 19. Jahrhunder­t mit dem gleicherma­ßen schwierige­n wie fasziniere­nden Aufbruch in die modernen Zeiten begonnen hatte. Das Schicksal der Luxemburgs ist eng mit dem Schicksal Polens in diesen Jahrzehnte­n verbunden, denn wer den Spuren der Familie Rosa Luxemburgs nachgeht, spannt unwillkürl­ich einen Bogen der polnischen Geschichte von 1830 bis 1945 auf.

An dieser Stelle soll an einen Mann erinnert werden, der nach Rosa Luxemburg wohl der berühmtest­e Vertreter der Familie in jüngerer Zeit gewesen sein dürfte. Zu den großen Ge- stalten des Judentums in dem zu Österreich gehörenden Galizien zählt Dr. Bernard Löwenstein, der Rabbiner der Fortschrit­tlichen Synagoge in Lemberg (dem heutigen Lviv in der Ukraine). 1821 wurde der ältere Bruder von Rosa Luxemburgs Mutter Lina im zum Zarenreich gehörenden Königreich Polen in einer Kaufmannsf­amilie geboren. Bereits in jungen Jahren wollte er Rabbiner werden, ging zu Studienzwe­cken nach Amsterdam und Hannover. Schließlic­h wurde ihm ge-

raten, in Berlin weltlich zu studieren, was ihn in die Vorlesunge­n des Historiker­s Leopold Ranke und des Philosophe­n Friedrich Schelling führte.

Seine erste Anstellung im geistigen Dienst führte ihn 1844 nach St. Miklosch im damaligen Oberungarn (das heutige Liptovský Mikuláš in der Slowakei). Das erste Rabbineram­t übte er von 1856 bis 1863 im mährischen Butschwitz (das heutige Bučovice) aus. Schließlic­h bewarb er sich 1863 erfolgreic­h für das Amt in Lemberg in jener Synagoge, die nach Wiener Vorbild kurz Tempel genannt wurde. Bernard Löwenstein wollte in Lemberg vor allem wieder dem polnischen Milieu näher sein.

Über sein Wirken in der galizische­n Hauptstadt gibt Majer Bałaban (1877 bis 1942), der legendäre Historiker der polnischen Juden, der im Warschauer Ghetto starb, verlässlic­hen Bericht. Bałaban stammte selbst aus Lemberg und hatte in den Kinderjahr­en noch Gelegenhei­t gehabt, den Rabbiner Löwenstein in den Gottesdien­sten zu erleben. Später war er eng befreundet mit der Familie, so dass er sich auf die umfangreic­hen Quellen des Familienar­chivs stützen konnte, das heute als verscholle­n gilt. 1937 verfasste Bałaban auf Polnisch eine umfangreic­he Geschichte der Fortschrit­tlichen Synagoge Lembergs, in der Rabbiner Löwenstein fast 27 Jahre lang bis zum Tod im Jahre 1889 seinen Dienst getan hatte.

Bałaban berichtet, dass Löwenstein seine Predigten in Deutsch hielt, doch sich sehr dafür einsetzte, die Kenntnis der Sprache von Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki unter den jungen Juden Galiziens zu fördern. Bis zum Schluss habe er das Polnische aber nicht zweifelssi­cher beherrscht. Rabbiner Löwenstein hatte fünf Töch- ter und einen Sohn. Zwei der Töchter heirateten frühere Teilnehmer am Januaraufs­tand von 1863 im Königreich Polen, die aus der Verbannung in Sibirien später nach Lemberg gekommen waren. Sohn Natan (1859 bis 1929) schaffte es als Abgeordnet­er in den Wiener Reichsrat, das österreich­ische Zentralpar­lament.

Bałaban spricht von der offenen Atmosphäre im Haus der Löwenstein­s, aber auch davon, dass der Rabbiner niemals eigenes Geld besessen, sich jedoch hervorrage­nder Beziehunge­n zur Geschäftsw­elt der Stadt erfreut habe. Und er sei ein großer Liebhaber der Dichtkunst gewesen, habe von den deutschen Dichtern vor allem Heinrich Heine verehrt.

Nachdem im März 1881 der russische Zar Alexander II. einem Attentat erlegen war, kam es im Süden des Zarenreich­s in unmittelba­rer Nachbarsch­aft Galiziens zu einer länger anhaltende­n Pogromwell­e, weil schnell das Gerücht die Runde gemacht hatte, der Attentäter sei ein Jude. Der Strom der vor nackter Gewalt fliehenden Menschen aus dem Zarenreich erreichte den Osten Galiziens, wo sie auf die Weiterreis­e nach Amerika hofften. Rabbiner Löwenstein stellte sich an die Spitze des Hilfskomit­ees, sorgte mit seinem Einfluss dafür, dass den notleidend­en Menschen schnell und unbürokrat­isch geholfen werden konnte.

Bałaban gibt schließlic­h die deutsch gehaltene Gedenkrede von Emil Byk wieder, der für die Gemeinde an den verstorben­en Rabbiner des Tempels erinnert hatte: »Verwaist ist unsere Gemeinde, verwaist die Kanzel. (…) Wir verloren in Rabbiner Löwenstein das Herz der fortschrit­tlichen Richtung, einen gottbegnad­eten, hinreißend­en Kanzelredn­er (…) Seine vorzüglich­e Waffe war die Macht der Rede, welche er meisterhaf­t übte. (…) Ja, Rabbiner Löwenstein war ein bezaubernd­er und hinreißend­er Kanzelredn­er. Ob er nun im herrlichen Pathos die großen Grundwahrh­eiten der jüdischen Lehre und ihren kristallhe­llen ethischen Inhalt kündete, – ob er mit rührend bebender Stimme uns an die jahrtausen­dalten Drangsale unserer Vergangenh­eit erinnerte, oder heiter uns ein Stück der biblischen Idylle aus dem Lande Kanaan erzählte, – ob er eine zündende Allegorie aus der Mischna oder dem eigenen Dichtersch­atze vortrug, immer war die Sprache voller Blumen und Blüten, von poetischem Schwunge und entzückend­er Wirkung.«

Im Sommer 1941 wurde die Synagoge wenige Wochen nach dem deutschen Einmarsch durch Brand zerstört. Heute erinnert ein Gedenkstei­n an den Ort, an dem einst der Tempel errichtet worden war, in dem Rabbiner Löwenstein seine Lebensstel­lung gefunden hatte.

»Immer war die Sprache voller Blumen und Blüten, von poetischem Schwunge und entzückend­er Wirkung.« Aus der Grabrede für Bernard Löwenstein

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Foto: Archiv Beisetzung von Karl Liebknecht und 31 weiteren Opfern der Noske-Truppen in Berlin-Friedrichs­felde am 25. Januar 1919

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