nd.DerTag

Maßstab Menschlich­keit

Rosa Luxemburg hat etwas vorgemacht, was wichtiger nicht sein kann: im Dialog mit den Menschen die Welt menschlich­er zu gestalten.

- Von Michael Brie Von Michael Brie erschien jüngst »Rosa Luxemburg neu entdecken« (VSA, 160 S., br., 12 €).

Im widersprüc­hlichen Ganzen des Werks von Rosa Luxemburg liegt die Wahrheit und nicht in diesem oder jenem ihrer Sätze. Und diese Wahrheit ist konkret, reibt sich an den realen Gegensätze­n, ist mit diesen behaftet. Luxemburg wollte emanzipato­rische Handlungsf­ähigkeit in zunehmend finsteren Zeiten herstellen. Sie kämpfte dabei gegen Ohnmacht und Verzweiflu­ng an, zeigte auf, wo Möglichkei­ten entstanden, dass die Arbeiterin­nen und Arbeiter, die Massen, wie sie es nannte, im eigenen Interesse, ausgehend von eigenen Einsichten, mit selbst geschaffen­en Formen der Organisati­on ihre Angelegenh­eiten in die eigenen Hände nehmen können. Zur konkreten Wahrheit gehört auch, dass durch diesen unbändigen Willen, solidarisc­he Emanzipati­on zu befördern, auch die Fesseln erkennbar werden, die überkommen­e Denk- und Verhaltens­weisen, Organisati­onsstruktu­ren und Kulturen darstellen. Es wird deutlich, wie schwierig es ist, neue zu schaffen. Ihr eigener letzter großer Versuch, die Gründung der Kommunisti­schen Partei Deutschlan­ds, legt davon Zeugnis ab.

Rosa Luxemburg war weder vor allem Theoretike­r wie Marx noch Parteiführ­er wie Bebel oder Lenin. Sie wirkte vor allem als Artikelsch­reiberin und Rednerin, wie sie auf einem SPD-Parteitag ausführte: Das »einzige Gewaltmitt­el, das uns zum Siege führen wird, ist die sozialisti­sche Aufklärung der Arbeiterkl­asse im alltäglich­en Kampfe«. Zwar hat sie wissenscha­ftliche Werke hinterlass­en. Der Schwerpunk­t ihrer Arbeit aber waren das geschriebe­ne und das gesprochen­e Wort. Sie wollte Arbeiterin­nen und Arbeiter direkt erreichen und zum eigenen Handeln motivieren, ihnen helfen, auf der Höhe der Zeit zu agieren. Dem entsprach auch ihre Vorstellun­g von Führung: Es drückt ihr Selbstvers­tändnis aus, wenn sie sagte, dass es nicht die Aufgabe einer sozialisti­schen Partei sei, per Kommando Massenhand­eln auszulösen: »Pflicht ist nur, jederzeit unerschroc­ken auszusprec­hen, was ist, d. h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtl­ichen Moment vorzuhalte­n, das politische Aktionspro­gramm und die Losungen zu proklamier­en, die sich aus der Situation ergeben.«

Es war für sie vor allem auch ein Ausspreche­n dessen, was sein soll. Und dieses Sollen hatte einen Maßstab – den der Menschlich­keit. Die ungeheure Ausstrahlu­ng Luxemburgs besteht darin, dass sie mit denen, die sie ansprach, eine sehr besondere Beziehung einging. Daraus resultiert­en ihre Sprache, ihr Gestus, ihre Haltung. Sie wollte, dass die, mit denen sie das Gespräch suchte, die Kraft entwickeln, ihr Leben selbst zu gestalten, Solidaritä­t zu üben, Widerstand zu leisten – und dies aus freiem Entschluss, geboren in freier Rede miteinande­r, in völliger Offenheit und Kompromiss­losigkeit. Was sie für sich selbst erkämpfte, auch im Gefängnis, in Verfolgung, wollte sie für alle – Freiheit. Aber Freiheit eben nicht als Beliebigke­it, sondern Freiheit als reiches Leben und in der Pflicht anderen gegenüber.

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