Maßstab Menschlichkeit
Rosa Luxemburg hat etwas vorgemacht, was wichtiger nicht sein kann: im Dialog mit den Menschen die Welt menschlicher zu gestalten.
Im widersprüchlichen Ganzen des Werks von Rosa Luxemburg liegt die Wahrheit und nicht in diesem oder jenem ihrer Sätze. Und diese Wahrheit ist konkret, reibt sich an den realen Gegensätzen, ist mit diesen behaftet. Luxemburg wollte emanzipatorische Handlungsfähigkeit in zunehmend finsteren Zeiten herstellen. Sie kämpfte dabei gegen Ohnmacht und Verzweiflung an, zeigte auf, wo Möglichkeiten entstanden, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Massen, wie sie es nannte, im eigenen Interesse, ausgehend von eigenen Einsichten, mit selbst geschaffenen Formen der Organisation ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen können. Zur konkreten Wahrheit gehört auch, dass durch diesen unbändigen Willen, solidarische Emanzipation zu befördern, auch die Fesseln erkennbar werden, die überkommene Denk- und Verhaltensweisen, Organisationsstrukturen und Kulturen darstellen. Es wird deutlich, wie schwierig es ist, neue zu schaffen. Ihr eigener letzter großer Versuch, die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands, legt davon Zeugnis ab.
Rosa Luxemburg war weder vor allem Theoretiker wie Marx noch Parteiführer wie Bebel oder Lenin. Sie wirkte vor allem als Artikelschreiberin und Rednerin, wie sie auf einem SPD-Parteitag ausführte: Das »einzige Gewaltmittel, das uns zum Siege führen wird, ist die sozialistische Aufklärung der Arbeiterklasse im alltäglichen Kampfe«. Zwar hat sie wissenschaftliche Werke hinterlassen. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit aber waren das geschriebene und das gesprochene Wort. Sie wollte Arbeiterinnen und Arbeiter direkt erreichen und zum eigenen Handeln motivieren, ihnen helfen, auf der Höhe der Zeit zu agieren. Dem entsprach auch ihre Vorstellung von Führung: Es drückt ihr Selbstverständnis aus, wenn sie sagte, dass es nicht die Aufgabe einer sozialistischen Partei sei, per Kommando Massenhandeln auszulösen: »Pflicht ist nur, jederzeit unerschrocken auszusprechen, was ist, d. h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, das politische Aktionsprogramm und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben.«
Es war für sie vor allem auch ein Aussprechen dessen, was sein soll. Und dieses Sollen hatte einen Maßstab – den der Menschlichkeit. Die ungeheure Ausstrahlung Luxemburgs besteht darin, dass sie mit denen, die sie ansprach, eine sehr besondere Beziehung einging. Daraus resultierten ihre Sprache, ihr Gestus, ihre Haltung. Sie wollte, dass die, mit denen sie das Gespräch suchte, die Kraft entwickeln, ihr Leben selbst zu gestalten, Solidarität zu üben, Widerstand zu leisten – und dies aus freiem Entschluss, geboren in freier Rede miteinander, in völliger Offenheit und Kompromisslosigkeit. Was sie für sich selbst erkämpfte, auch im Gefängnis, in Verfolgung, wollte sie für alle – Freiheit. Aber Freiheit eben nicht als Beliebigkeit, sondern Freiheit als reiches Leben und in der Pflicht anderen gegenüber.