Rebellisches Neapel
Der Bürgermeister der süditalienischen Stadt, Luigi de Magistris, profiliert sich in Sachen Migration gegen die Regierung in Rom. Was kann er bewirken?
Neapels Bürgermeister wurde europaweit bekannt mit einem Brief an den Innenminister und der Öffnung des Hafens für Geflüchtete. Indes leben Migranten in der Stadt unter prekären Bedingungen.
Es ist Samstagmittag, der 5. Januar. Gerade einmal zwei Tage sind vergangen, seit der Bürgermeister von Neapel, Luigi de Magistris, einen offenen Brief abschickte, in dem er der Crew des zivilen Rettungsschiffes »Sea-Watch« sowie den sich zu dieser Zeit an Bord befindlichen Geflüchteten anbietet, den Hafen von Neapel anzusteuern. Zu diesem Zeitpunkt harren insgesamt 49 Geflüchtete auf zivilen Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer aus. Alle EU-Staaten untersagen ihnen das Anlanden – der Brief von De Magistris erhält vor diesem Hintergrund europaweit Aufmerksamkeit.
An dem Samstag im Januar findet in Neapel eine erste Demonstration statt, die sich den Forderungen von De Magistris anschließt. Unter dem Motto »Aprire i Porti« (»Öffnet die Häfen«) gehen mehrere Tausend Menschen auf die Straße, ein sehr durchmischtes Publikum lauscht auf der Via Toledo den Reden, bevor sich die Demonstranten in Richtung Fährhafen in Bewegung setzen. Neben der Öffnung der Häfen fordern sie vor allem eines: ein Ende der Rechtsregierung mit ihrem dominanten Innenminister Matteo Salvini von der Lega.
In der Causa »Sea-Watch« macht sich neben vielen Initiativen, Hilfsorganisationen und De Magistris auch Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, für die Aufnahme der Geflüchteten in Italien stark. Orlando und De Magistris sind nicht die einzigen Stadtoberhäupter Italiens, die sich in diesen Wochen gegen die Politik der Regierung auflehnen. Insgesamt zwanzig tun öffentlich kund, dass sie das neue, im Dezember beschlossene »Sicherheitsgesetz«, maßgeblich entworfen von Matteo Salvini, in ihren Gemeinden nicht umsetzen werden. Spätestens nach seinem offenen Brief aber wird besonders Neapels Bürgermeister über Italiens Grenzen hinaus als rebellische Ikone gefeiert.
Viele Geflüchtete bleiben im Süden
Neapel liegt im Süden Italiens. In einer Region also, die nicht erst seit der Finanzkrise im Jahr 2008 unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen leidet. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in großen Teilen bei über 50 Prozent, viele qualifizierte Menschen verlassen den Süden. Grund ist in erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen, die historisch schon immer eher im industriell geprägten Norden des Landes angesiedelt sind.
Den Beginn eines Umbruchs in Sachen Migration markiert hier nicht wie in den meisten nördlicher gelegenen europäischen Staaten das Jahr 2015, sondern bereits 2011 der »Arabische Frühling«. Abdelouhad El Mir, ein 28-jähriger Doktorand, der an der Universität von Neapel zu Rassismus auf dem italienischen Arbeitsmarkt forscht, erklärt, dass es bis 2011 noch für die meisten Geflüchteten gängig war, lediglich für eine Übergangszeit im Süden Italiens zu bleiben, um dann weiter in Richtung Norden aufzubrechen. Seitdem jedoch zeigt die Entwicklung Gegenteiliges: Immer mehr Menschen bleiben nun dauerhaft im Süden. Besonders in Neapel, der größten Stadt in der Region, sei dies sichtbar, meint El Amir.
Neben den wirtschaftlichen Problemen hat Süditalien auch mit der Dominanz krimineller Strukturen zu kämpfen. Seit einigen Jahren benutzen diese gezielt Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis und beuten sie in informeller Straßenarbeit oder als Erntehelfer*innen auf den Feldern der Region aus. Der rechtliche Status der Betroffenen sorgt in den meisten Fällen dafür, dass sie sich gegen die Arbeitsbedingungen, die Bezahlung unterhalb des Mindestlohns und abverlangte Überstunden nicht zur Wehr setzen können.
Ein weiteres Problem der Stadt sind die gängigen Erstunterkünfte, die sogenannten CAS (Centri di Ac- coglienza Straordinaria). Häufig sind diese in extrem abgelegen Gegenden Süditaliens gelegen, in Neapel jedoch befinden sich alleine 15 von ihnen in direkter Nähe des Hauptbahnhofes.
In Kombination mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage und dem darauf gründenden informellen Arbeitsmarkt ist diese räumliche Konzentrierung Grundlage für eine Vielzahl weiterer Probleme. El Amir schildert, dass so, und auch wegen der Überthematisierung von Migration in den italienischen Medien, ein idealer Nährboden für jene rassistische Erzählung geschaffen werde, die eine komplexe Problemlage einzig als »Migrationsproblem« deutet und in diesem die Basis von informeller Arbeit sowie Kriminalität sieht.
Grundsätzlich, so der Sozialforscher weiter, sei Neapel aber durch seine Geschichte als Hafenstadt eine relativ offene Stadt mit einer starken Zivilgesellschaft. Seit jeher gebe es in dieser auch migrantische Gruppen. Dennoch ist die Stadt von den Wahlerfolgen rechter Parteien nicht vollends unverschont geblieben: Waren es im Jahr 2013 noch 3,54 Prozent für rechte Parteien, so erhielten diese 2018 bereits 6,26 Prozent.
Welche Rolle spielt nun aber Bürgermeister Luigi De Magistris? Der 51-jährige ehemalige Staatsanwalt wurde das erste Mal im Juni 2011, inmitten der »Müllkrise«, zum Stadtoberhaupt gewählt und setzte sogleich ein wichtiges Zeichen: Dank regelmäßigerer Abholung und neuer Entsorgungshöfe sowie Verbrennungsanlagen löste er, vorübergehend, das Müllproblem. Ein Jahr später wurde unter seiner Ägide die Wasserversorgung rekommunalisiert. De Magistris profilierte sich zudem schon früh in Opposition zur Politik der Zentralregierung. 2016 wurde er wiedergewählt.
Kampf gegen das Sicherheitsgesetz
Tatsächlich erlebt Neapel seither einen Wandel, der der lokalen Wirtschaft sogar zu einem gewissen Aufschwung verhalf. So hat sich seit der Wahl von De Magistris die Touristenzahl fast verdoppelt. Doch ist diese Entwicklung widersprüchlich: Der Tourismus hat zwar eine Vielzahl von Jungen und Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt integrieren können, doch ist dieser eben auch durch informelle Beschäftigung, niedrige Löhne und Perspektivlosigkeit geprägt. Die kommunale Politik konnte diesbezüglich bislang kaum eine Antwort finden und bleibt auch heute noch an vielen Stellen untätig.
Fest steht: Besonders intensiven Widerstand probt De Magistris gegen Matteo Salvinis Sicherheitsgesetz, welches als in Teilen verfassungswidrig gehandelt wird. Das Gesetzt sorgt unter anderem für eine Reihe von migrationspolitischen Verschärfungen. So wurde der humanitäre Asylstatus abgeschafft, über den mehr als ein Viertel aller Asylsuchenden in Italien eine Aufenthaltsbewilligung er- hielten. In den nächsten Monaten könnten als Folge des Gesetztes rund 40 000 Geflüchtete ihre Papiere verlieren und obdachlos werden. Auch wurden die Möglichkeiten für Migranten, sich offiziell beim Einwohnermeldeamt anzumelden, stark eingeschränkt, so dass sie nun in vielen Fällen keinen Zugang zu staatlichen Leistungen haben.
Die angekündigte Opposition gegenüber Salvini und die Öffnung des Hafens von Neapel für die Rettungsschiffe haben eine zivilgesellschaftliche Aktivierung ausgelöst. Zwar gingen die 49 Geflüchteten, die um die Weihnachts- und Silvestertage verzweifelt einen Hafen suchten, letztlich in Malta an Land, von wo aus sie auf Europa verteilt werden sollen. Doch in Neapel gab es eine Welle der Bereitschaftsbekundungen für Solidarität: Auf der Website der Gemeinde haben sich in wenigen Tagen über 9000 Personen bereit erklärt, bei einem möglichen Anlanden des Rettungsschiffs in Neapel konkret zu helfen. Nachdem klar war, dass der Hafen von Malta geöffnet werden würde, nutzte die Stadtverwaltung das so entstandene Helfernetzwerk jedoch weiter und lud alle Interessierten zu einem Treffen ein.
Politisches Kalkül und Grenzen des regionalen Engagements
Ein wenig mag das Engagement des Bürgermeisters, so vermuten manche in der Stadt, auch der Tatsache geschuldet sein, dass in den nächs- ten zwei Jahren drei wichtige Wahlen anstehen: die EU-Wahl im Mai sowie die Regional- und Kommunalwahlen 2020. De Magistris kann nicht erneut als Bürgermeister in Neapel kandidieren, will aber vermutlich seine politische Karriere weiterführen. Die Rolle des Oppositionellen zur Zentralregierung ist also sicherlich auch wohldurchdachtes politische Kalkül.
Seine Rhetorik der Rebellion hat – so oder so – als Katalysator für eine temporäre Veränderung gewirkt. Die Migrant*innen von Neapel aber leiden in ihrem Alltag weiter unter den Missständen, denen auch die kommunale Regierung nicht beikommt. Was bei allem Aufatmen und der Erleichterung über die Öffnung des maltesischen Hafens häufig untergeht, ist eine realistische Perspektive auf die Zukunft für die Menschen, die bereits in der Stadt leben und für jene, die noch kommen werden.
Zwar ist es auch dem durch den von Palermos Bürgermeister Orlando oder eben De Magistris erzeugten Druck zu verdanken, dass es zu ebenjener Öffnung in Malta überhaupt kam. Dennoch: Nur einen Tag nach dem Beschluss strandete ein weiteres Boot mit 51 Geflüchteten an der italienischen Küste. Die Lebensbedingungen wie auch die Perspektive auf einen langfristigen Verbleib in der Region bleiben im Rahmen der herrschenden italienischen Migrationspolitik sowohl in Palermo als auch in Neapel unsicher.