Rotstift beim Existenzminimum
SPD-Minister rechtfertigt Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht
Berlin. Vor dem Bundesverfassungsgericht hat eines der wichtigsten Verfahren der vergangenen Jahre rund um das Hartz-IV-System begonnen. Dabei geht es um die Frage, ob von Jobcentern verhängte Sanktionen gegen das menschenwürdige Existenzminimum und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen. So kann das ALG II für jeweils drei Monate um 10, 30, 60 oder gar 100 Prozent gekürzt werden, wenn die Empfänger gegen bestimmte Pflichten verstoßen.
Die Anwältin des Klägers, Susanne Böhme, sagte in der mündlichen Verhandlung am Dienstag in Karlsruhe, starre Sanktionen für drei Monate wirkten demotivierend. Häufig seien weitere Personen wie die Kinder, die mit dem Empfänger in einer Bedarfsgemeinschaft leben, von den Kürzungen betroffen.
Für die Bundesregierung sagte Sozialminister Hubertus Heil (SPD), mit der Einführung der Regelungen 2005 habe sich der Gesetzgeber für »aktivierende Hilfen« entschieden. Es solle »soviel Ermutigung geben wie möglich und soviel Ermahnung wie nötig«.
Der Deutsche Städtetag hält den Grundsatz des Förderns und Forderns für »durchaus sinnvoll«. Die härteren Sanktionsregeln für unter 25-Jährige seien aber »überflüssig«, sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy der Funke Mediengruppe. Solche Sanktionen erhöhten die Gefahr, in Obdachlosigkeit zu geraten.
Für den Sozialverband Deutschland darf es bei den bisherigen Regelungen nicht bleiben. »Der Staat muss die Existenzgrundlage seiner Bürger gewährleisten«, so Präsident Adolf Bauer. Die Vizevorsitzende der LINKE-Bundestagsfraktion, Susanne Ferschl, forderte die Abschaffung des Sanktionsregimes. »Statt Strafen brauchen wir eine Initiative für gute Arbeit und mehr soziale Sicherheit.« Sie hoffe auf eine richtungsweisende Entscheidung.
Am Dienstag begann in Karlsruhe einer der wichtigsten Sozialprozesse der vergangenen Jahre. Die Richter*innen sollen entscheiden, ob Hartz-IV-Sanktionen mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
»So eine große Demo habe ich hier lange nicht mehr gesehen«, sagt eine Mitarbeiterin des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Sie blickt durch die bodentiefe Glasfassade des höchsten Gerichts. Draußen haben Protestierende bei drei Grad Celsius am Schlossgarten eine Protestmeile aufgebaut. »Weg mit den Sanktionen«, »Grundrecht auf menschenwürdige Existenz« und »Hartz IV ist die Sanktion« steht auf ihren Schildern.
Und genau darum geht es an diesem Dienstag in der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts. Sind die seit 2005 geltenden Hartz-IV-Sanktionen mit dem Grundgesetz zu vereinbaren? Zumindest das Sozialgericht Gotha hatte erhebliche Zweifel an der Sanktionspraxis und rief das Verfassungsgericht an. 2010 urteilte dann Karlsruhe, dass Hartz IV in seiner Ausgestaltung ein »menschenwürdiges Existenzminimum« darstellen müsse, das auch soziale und kulturelle Teilhabe ermögliche. Es habe »stets« und »unverfügbar« zur Verfügung zu stehen. Die Richter*innen ließen damals dem Gesetzgeber aber einen Spielraum: Die konkrete Ausgestaltung des Existenzminimums sei Sache des Staates. Dies könnte auch in gewissem Maße Sanktionen umfassen.
Es ist einer der wichtigsten Prozesse zu einem Sozialthema der vergangenen Jahre. Denn: Erklärt das Bundesverfassungsgericht die Strafen für verfassungswidrig, würde das den kompletten Kern von »Fördern und Fordern« kippen. »Fördern und Fordern« ist das Kernprinzip des Umgangs mit Erwerbslosen seit der Regierung von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD). Seither gilt: Wer nicht spurt, den Job vom Arbeitsamt nicht annimmt, wer wegen eines platten Reifens einen Termin verpasst oder keine Lust auf ein fünftes Bewerbungstraining hat, dem muss der Regelsatz stufenweise gekürzt werden. Verstößt man binnen eines Jahres drei Mal gegen diese »Mitwirkungspflichten«, behält das Jobcenter den kompletten Regelsatz plus Mietzuschüsse ein. Lebensmittelgutscheine sind dann nur Kann-Leistungen.
Zu Beginn der Verhandlung sprach Susanne Böhme, die Anwältin des Erfurter Erwerbslosen, dessen Sanktionen den Fall ins Rollen gebracht hatten. Aus der Verfassung leite sich vielleicht keine konkrete Höhe eines Existenzminimums ab, so Böhme. »Aber wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass die Grundsicherung gerade so das Existenzminimum gewährleistet, wie kann dann daran gekürzt werden?«
Aus ihren Erfahrungen als langjährige Sozialrechtlerin wies Böhme auf inhärente Schieflagen des HartzIV-Sanktionssystems hin: »Das Prinzip des Förderns und Forderns ist zu einem des reinen Forderns geworden«, erklärte sie. Häufig fände keine ausreichende Aufklärung durch die Jobcenter statt. Zudem seien viele Abmahnungen willkürlich, das belege die hohe Zahl der erfolgreichen Widersprüche. Diese Hinweise zur Verhältnismäßigkeit der Sanktionen sind be- deutend, da diese in die spätere Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Sanktionen hineinspielen.
Eine überraschende Einschätzung hielt der Bevollmächtigte der Bundesregierung, der Rechtsanwalt Ulrich Karpenstein, bereit. Denn er hält Kürzungen des Existenzminimums nicht für verfassungsmäßig, wenn sie auf Null gehen: »Die Gefahr von Hunger und Obdachlosigkeit müssen ausgeschlossen sein«, sagte er. Allerdings: Sanktionen an sich hält er in der Sache für vom Grundgesetz gedeckt. Die interessante Begründung: Ausgerechnet Paragraf eins des Grundgesetzes, »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Daraus leitet Karpenstein auch die Leitmaxime des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit ab – was sogar das Gericht verwunderte: »Meinen Sie nicht, dass das mit Artikel eins etwas zu hoch gehangen ist?«, fragte Richterin Gabriele Britz.
Kurz vorher hatte der amtierende Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) eine etwas andere Position vertretenen. Er erklärte stellver- tretend für die Bundesregierung, dass er das jetzige Sanktionssystem für vollends verfassungsgemäß erachte: »Die Bundesregung ist der Meinung, dass sich aus der Verfassung kein Verbot einer Verknüpfung dieses Existenzminimums mit gewissen Auflagen ableiten lässt«, sagte Heil. Er stützt sich damit auf das Urteil von 2010, in dem die Karlsruher Richter schon einmal über Hartz IV verhandelt hatten. Anders als seine Partei es in den letzten Monaten andeutete, blieb Heil nicht nur bei den Sanktionen. Er erklärte auch, er halte das Prinzip des »Förderns und Forderns nach wie vor für richtig«. Seine Parteichefin Andrea Nahles hatte Ende des vergangenen Jahres angekündigt, dass sie »Hartz IV überwinden« wolle.
Viele Verfassungsrechts expert* innen rechnen dagegen mit einer Teilab schaffung der Sanktionen. Gerade die Kürzung der Mietzuschüsse ohne Ausgleich, als auch das Kürzen des Regelsatzes ohne Ersatz, könnten in dem anstehenden Urteil der Richter*innen für verfassungswidrig erklärt werden.