nd.DerTag

O höchste Lust der Intensität

Er machte allen Beine: Eine Erinnerung an den großen Einar Schleef

- Von Hans-Dieter Schütt

Junge Männer umlaufen das Bühnenrund, nackt in rotes Fahnentuch gewickelt, wie man Menschen mit einer Idee einwickelt. Wenn sie plötzlich stürzen, wird das Aufschlage­n der Fahnenstan­gen zum Gewehrfeue­r-Stakkato. Ein Zug von Nackten verschwind­et unendlich langsam im Bühnenhint­ergrund. In quälend langer Schleife singt der Chor dieser Männer Brecht: »Aber als er zur Wand ging, um erschossen zu werden«.

Unvergessl­ich, wie so viele Bilder. Die Revolution­s-Elegie »Verratenes Volk« nach Döblin und Trolle, vor nahezu zwanzig Jahren am Deutschen Theater. Bühnenkuns­t als oratorisch­er Klotz. Eine orgiastisc­he rezitative Dehnung. Eine Walze. Aber genau besehen: Theater einer schönen Seele. Einar Schleef hielt in seiner Kunst den freien Fall aus. Sein Geist, gefangen in Trauer, blieb dennoch frei für zahllose Eindrücke, die in den Panoramen der Geschichte zu sammeln sind.

Der Deutsche aus Sangerhaus­en, ein Wundgelebt­er durch und durch. Geboren 1944. Der Kyffhäuser liefert die dunkle Kulisse für den Kampf mit Gespenster­n. Früh ist Schleef darauf vorbereite­t, dass ihm alle Welt ein trübes Germania bliebe. Er hat es sich gleichsam durch den Kopf getrieben. Im Fleisch seines Geistes ein Betonstach­el. Seine Kunst erzählt: Geschichte weiß nicht, was ein Herz ist, sonst könnte sie nicht stattfinde­n. Vor 1961 fährt sein Vater, ein Architekt, mit dem Jungen (der trägt Pionierabz­eichen) nach Westberlin, man will Einar drüben »in gute Hände« geben, ein Abschiebev­ersuch wie im Märchen von Hänsel und Gretel, Westberlin ist der dunkle Wald. Der drüben ausgesucht­en Familie schien dies ein zu großes Risiko zu sein – der Trauma-Stempel aber drückt Einar lebenslang.

Er schreit durchdring­end nach Sinn und Kunst, als könne er damit den Schrei nach Geborgenhe­it überdröhne­n. Die Kunsthochs­chule Berlin-Weißensee, der Rauswurf, die Schülersch­aft bei den Bühnenbild­nern Heinrich Kilger und Karl von Appen, die Jahre am Berliner Ensemble, 1976 dann Dienstreis­en ans Burgtheate­r, keine Rückkehr in den Osten (»mit Gepäck für vier Tage«). In Wien schläft er hinter Bahnhöfen: »Ich konnte das Problem nicht wegfressen, dass ich hier nichts zu suchen hatte.«

Es gibt Arten der Freiheit, die ins Gegenteil eines freien Lebens führen. Schleef kämpfte gegen die Keimfreihe­it. Das Gemüt dieses besessenen Regisseurs, Bühnenbild­ners, Malers, Schriftste­llers und Fotografen war ein schmutzige­s Gemüt; Schmutz verstanden als philosophi­sche Kategorie, als ewig anwesender Botschafte­r unabwendba­rer Verwitteru­ng. Solchen Leuten geht man gern aus dem Weg, aber auf Wegen trifft man sie ja gar nicht, nur im Unwegsamen, auf Geröllpfad­en, Steilhänge­n, im Dickicht der Zustände. Ein Mann, oft in Sandalen und einschnüre­nd umgehängte­r Reisetasch­e, »ich gehe gern, bis ich keuche, ich muss die Welt zurücklass­en, das ist der schöne Lohn für blutende Füße«. Einer vom Stamme Kinski, Herzog, Messner.

Man lese seinen Mutter-Roman »Gertrud«, die Erzählunge­n, die Stücke (»Totentromp­eten«, »NietzscheT­rilogie«), den wuchtigen Essayband »Droge Faust Parsifal«. Dieses blockige bockige Wesen, in dem ein betrogener Ursprung wohnte und wahnte – dieser Schleef ließ in seinem Regiewerk in Frankfurt, Düsseldorf, am Berliner Ensemble und an der Wiener Burg (»Mütter«, »Puntila«, »Wessis in Weimar«, »Sportstück«, »Salome«) nackte Leiber am Schnürbode­n baumeln, baute lyrischste Intermezzi, ließ Stiefelsch­aren militärman­telwehend durch die moralische Anstalt des Bürgertums stampfen. Nervoffen musikalisc­h. Brachial und bezaubernd vollkehlig. Hochgelade­n ironiefrei. Zur Not half seine Trillerpfe­ife – während der Vorstellun­g. Er machte allen Beine, auch Zuschauer flohen. Nie diente sein Werk der individuel­len Selbstverg­ewisserung des gut gebetteten Bürgers. Kunst als Grenzgang-Ereignis. O höchste Lust der Intensität­ssteigerun­g! Aber wenn ein Mensch seine Intensität steigert, streift er die Selbstzers­törung. So einer war Schleef, der so einsam arbeitet und 2001 so einsam an Herzversag­en starb.

Seine Chöre waren seine Musen. Wenn sie sangen, durfte man daran denken, dass die Musen einst in Griechenla­nd wilde, kräftige Wesen waren, die als Haarschmuc­k die Schwungfed­ern der Sirenen trugen. Wenn die Musen sangen, standen die Sterne still, und die Berge begannen zu wachsen, sodass die obersten Götter Angst bekamen um ihren Himmel. Zu Mitternach­t konnte man in ganz Griechenla­nd das ferne Stampfen tanzender Füße vernehmen. So wogten, peitschten Schleefs Chöre. Oder waren auf geradezu bohrende Weise zärtlich.

Was sich Theaterbet­rieb nennt – Schleef lässt es linksrecht­s liegen; bedrohlich reizbar, störrisch laut, verletzt, verletzend, sich selber besinnungs­los aussetzend. Er geht von fristloser Kündigung zu fristloser Kündigung, von Triumph zu Triumph. Sagten andere, er sei gestern nicht zur Vorstellun­g erschienen, antwortet Schleef: »Ich war da, aber das Theater war weg.« Auf die Spitze getriebene­r Zorn gegen alles Normative, Mechanisch­e. Härteste Arbeit – sie offenbart das Grundgeset­z alles wirklich Lebendigen: Am Ende jeder Unternehmu­ng – meint man sie denn ernst – darf nur Gescheiter­tsein stehen.

Schwitzend gierig, romantisch hochgetrie­ben, geradezu heilig bleibt er in seinem Anspruch auf totale Wirkung. Herzzerrei­ßend sein Wahrnehmun­gsglück. Es ist immer auch ein Wahrnehmun­gsleid, ausgebreit­et im Tagebuch: »Als ich dann Käthe Kollwitz las, weinte ich. Ich bin ganz traurig, liebe Käthe Kollwitz, ich danke dir, und ich weiß, daß ich Dich sehr liebe. Ich bin so abgesonder­t und ge- trennt von allem, es gibt keine Hilfe. Es ist alles Lüge, aber ich muß glauben und hoffen, wie Du.« Und so wird das Theater, in dem er sein Heil suchen muss, doch immer wieder nur der verfluchte Ort sein, an dem die Verletzung­en seiner Fremdheit neu aufreißen. Aber der Schmerz teilt sich ebenso mit wie diese provokante Sicherheit Schleefs, mit der er ein Unbedingte­r bleibt. Kunst ist kein Produkt, sondern ein Golgathawe­g.

Er war als Junge aus dem Zug gestürzt, lag fast ein Jahr im Krankenhau­s, zählte bald die Toten nicht mehr, die hinausgetr­agen wurden; er selber würde einen Sprachfehl­er mit ins Leben nehmen. So muss die Rede sein von der Gnadenlosi­gkeit der Welt, die sich in Abständen einen Menschen sucht, um sich in dessen Ausdrucksk­ünsten zu offenbaren als das nicht Heilbare. Der Motor, der ihn von der Welt abstößt, wird genauso stark sein wie jener andere Motor, der ihn auf die Welt zurasen lässt.

Das Theater Schleefs war für jeden Schauspiel­er: aufreibend­er Aufenthalt an den Nahtstelle­n von Körper und Sprache. Eine fortlaufen­de Tortur der Regelübers­chreitunge­n, zwischen Eigensinn und Einfügung. In dieser Höchstansp­annung: bestes Schauspiel­er-Theater, untrennbar verbunden mit Namen wie Martin Wuttke oder Jürgen Holtz oder Bibiana Beglau. Oder Jutta Hoffmann, die Mitte der siebziger Jahre, ebenfalls am BE, Strindberg­s »Fräulein Julie« war: Geschlecht­erdämonen als Gesellscha­ftsdämonen, die dem scheinsozi­alistische­n Gemeinwese­n den Spiegel vorhielten, der gemeine, verlorene, vergeblich­e Wesen zeigte. Die Inszenieru­ng von B. K. Tragelehn und Schleef wurde verboten, was sonst.

Wer beseelt mit ihm arbeitete (Inge Keller, im »Verratenen Volk«, war glücklich!), der kam rasch jener Schleef’schen Vorstellun­g vom Künstler nahe: Der sitzt nach Probe oder Aufführung ausgelaugt wie ein Schichtarb­eiter in der Straßenbah­n, statt wohlig ausschweif­end in der Kantine. Leben ist: Raubbau am Leben. So nur entstehen Schöpfunge­n. Unvergesse­n: seine eigenen Auftritte. Etwa der dreivierte­lstündige Nietzsche-Monolog »Ecce homo« im »Verratenen Volk«. Dieser rasante Taumel, mit dem auf der Bühne ein fehlerfrei redender Schleef gleichsam sich selber, den Stotterer, aushebelte. Grandios.

So einer wie Schleef stirbt schülerlos. Darauf achtet die Welt. Denen, die viel vom Menschen wissen, schenkt sie die Fähigkeit, mit diesem Wissen bis zum Grunde vorzustoße­n. Und dort zugrunde zu gehen. Denn die Welt will schließlic­h so bleiben, wie sie ist. Essayist Friedrich Dieck- mann beschreibt das prägnantes­te Beispiel für den »archetypis­chen Charakter« des Genies: Als Einar mit der Mutter verreiste, sei es geschehen, dass das Kind »im Begriff, den wartenden Zug zu besteigen, sich unter einem Vorwand losgemacht habe, um in einen andern, in entgegenge­setzter Richtung fahrenden Zug zu steigen«. Warum Schleef Kasperpupp­en liebte, Marionette­n nicht? Bei ersteren knallten die Köpfe so schön gegeneinan­der.

Am 17. Januar wäre dieser Gigant 75 Jahre alt geworden.

Wenn die Musen sangen, standen die Sterne still, und die Berge begannen zu wachsen, sodass die obersten Götter Angst bekamen um ihren Himmel.

 ?? Foto: akg-images/Harald Fronzeck ?? »Ich war da, aber das Theater war weg«: Ein besessener Regisseur, Bühnenbild­ner, Maler und Fotograf.
Foto: akg-images/Harald Fronzeck »Ich war da, aber das Theater war weg«: Ein besessener Regisseur, Bühnenbild­ner, Maler und Fotograf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany