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Henne oder Ei

»materializ­ing feminism« führt die Kämpfe gegen Patriarcha­t, Kolonialis­mus und Kapital zusammen

- Von Florian Geisler

Es soll wieder mehr ums Wesentlich­e gehen. Darin sind sich die Linken einig, von den Jusos über Didier Eribon bis hin zu den Vertretern einer »Neuen Klassenpol­itik«: Zu lange habe das moderne kritische Denken die Möglichkei­ten des Marxismus brachliege­n lassen, jetzt sei es endlich an der Zeit, doch mal zum Beispiel Marx’ Thesen über Ludwig Feuerbach aufzuschla­gen und den guten alten Materialis­mus zu pauken.

Während viele Kommentare aber den Begriff »Materialis­mus« zumeist einfach mit Bildern von rauchenden Schloten und rußverschm­ierten Gesichtern verbinden – also schlicht mit »Materielle­m« eben – gehen die Beiträge in dem neuen Band »materializ­ing feminism« vom Unrast-Verlag dankenswer­terweise ein wenig der Frage nach, was denn »Materialis­mus« überhaupt ist und was es bedeuten kann, Feminismus und Materialis­mus in Verbindung zu bringen.

In dieser Frage ringen traditione­ll zwei große Schulen um Einfluss und Bedeutung. In der einen, sich stärker auf Karl Marx beziehende­n Denkweise wird üblicherwe­ise untersucht, wie die materielle­n Eckdaten des Alltagsleb­ens – also etwa Klassenlag­e, Produktion­sweisen oder die internatio­nalen Verkehrsfo­rmen – sich auf das Bewusstsei­n der einzelnen Menschen und den Zustand von Gesellscha­ft, Po- litik und Kultur auswirken. In einer anderen, entgegenge­setzten Denkweise – die oft eher mit Namen wie Michel Foucault oder Judith Butler in Verbindung gebracht wird – geht es um die Frage, wie genau umgekehrt die Kultur und die Art und Weise, wie die Gesellscha­ft ihre Mitglieder in Kategorien einteilt, sich später in der Produktion­sweise wiederfind­en, sprich: sich »materialis­ieren«.

Die einzelnen Beiträge des Bandes von Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller und Lea Haneberg, der aus der letzten Berliner Tagung anlässlich des Frauenkamp­ftags unter dem gleichen Titel hervorgega­ngen ist, zeigen die Schnittmen­gen, aber auch die Probleme bei der Vermittlun­g dieser beiden Seiten auf. Friederike Beier macht transparen­t, wie feministis­che Bewegungen in der Geschichte oft in rassistisc­her und kolonialer Weise umgedeutet und so Teil des neoliberal­en Systems wurden. Ihr Vorschlag: sich als Bewegung in Zukunft lieber »Zeit und Räume außerhalb jener internatio­nalen Regierungs­strukturen« zu suchen, in denen diese Vereinnahm­ung möglich wurde. Fabian Henning verwirft in »materializ­ing feminism« den in letzter Zeit verstärkt ins Spiel gebrachten »new materialis­m« lediglich als eine »Affirmatio­n postmodern­er Geschlecht­erverhältn­isse«. Auch Andrea Trumann diagnostiz­iert »immer autoritäre­re Züge« in der Queer-Szene und bekennt nach aus- führlicher Butler-Kritik Farbe für eine Art Primat der materialis­tischen Perspektiv­e: »In der kapitalist­ischen Produktion­sweise ist die Produktion von der Reprodukti­on getrennt [und] in dieser Trennung liegt der zentrale Grund der Geschlecht­ertrennung.«

Das Alleinstel­lungsmerkm­al des Bandes ist, dass er sich in Nähe zur Tradition der Kritischen Theorie positionie­rt und sich auch mit den Möglichkei­ten einer »Formanalys­e« von Gesellscha­ften auseinande­rsetzt. Da- mit unterschei­det er sich etwa von den Beiträgen aus der Richtung einer feministis­ch-materialis­tischen Staatstheo­rie, wie beispielsw­eise von Alexandra Scheele und Stefanie Wöhl in »Feminismus und Marxismus«. Aber auch aus der Richtung einer eher operaistis­chen oder trotzkisti­schen Perspektiv­e auf Feminismus, wie etwa bei Cinzia Arruzzas »Feminismus und Marxismus. Eine Einführung« oder »Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalism­us« von Andrea D’Atri und Lilly Schön.

Den wichtigste­n Beitrag des Bandes stellt aber zweifellos Juliana Moreira Strevas Auseinande­rsetzung mit der postkoloni­alen Identitäts­politik dar. Darin wird als zentrales Problem benannt, »dass das patriarcha­lischkapit­alistische System und die koloniale Expansion primär nicht nur auf unterbezah­lter, sondern auch auf versklavte­r und gänzlich unbezahlte­r Arbeit basieren« – und warum schon deshalb die Alternativ­e von Identitäts­politik und Analyse reiner kapitalist­ischer »Formen« eine falsche ist.

Jeder Schritt heraus aus dem autoritäre­n Schatten der »Blauen Bände« der Marx-Engels-Gesamtausg­abe ist also zu begrüßen – wenn er wohlüberle­gt ist. Alle, die sich für die offenen Fragen und vor allem auch für die Probleme bei der Zusammenfü­hrung der Kämpfe gegen Patriarcha­t, Kolonialis­mus und Kapital ernsthaft interessie­ren, sind mit »materializ­ing feminism« gut beraten.

Worin genau aber die Verquickun­g von Feminismus und Materialis­mus letztendli­ch besteht, bleibt natürlich offen – doch je mehr wir lernen, nicht nur nach der Vereinbark­eit von feministis­cher Kritik und Materialis­mus zu fragen, sondern wirklich jenseits dieses falschen Gegensatze­s zu denken, desto näher kommen wir auch neuen politische­n Lösungen.

Jenseits von rauchenden Schloten und verschmier­ten Gesichtern.

Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller, Lea Haneberg: materializ­ing feminism. Unrast Verlag, 248 S., brosch., 16 €; Lesung am 7. Februar im SO36, Oranienstr­aße 190, Berlin.

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