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Neue Verfolgung­swelle trifft Homosexuel­le

Tschetsche­nische Regierung bezeichnet die Anschuldig­ungen als »Lüge«

- Von Ute Weinmann, Moskau

Das russische LGBT-Netzwerk berichtet über erneute Verfolgung­en von Homosexuel­len in Tschetsche­nien. Insgesamt 40 Frauen und Männer wurden festgenomm­en.

»In Tschetsche­nien gibt es erneut Massenfest­nahmen, Folter und Mord an Schwulen und Lesben.« Mit diesen Worten beginnt Igor Kotschetko­w, Programmdi­rektor des russischen LGBT-Netzwerks, seine Videoanspr­ache, die Mitte Januar auf Youtube veröffentl­icht wurde.

Erst im Dezember beschäftig­te sich der ständige Rat der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa mit einem umfangreic­hen Bericht über die Verfolgung Homosexuel­ler in der russischen Nordkaukas­usrepublik. Im Zeitraum von Ende Februar bis zum Sommer 2017 wurden nicht weniger als 200 Menschen festgenomm­en und in inoffiziel­len Gefängniss­en physischer Gewalt und Folter unterworfe­n. Als Anlass dienten Polizei und Nationalga­rde einzig und allein der Verdacht auf eine, wie es im russischen Jargon heißt, »nichttradi­tionelle sexuelle Orientieru­ng«.

Überlebend­e berichtete­n später von den unhaltbare­n Haftzustän­den. Aber es gab auch Tote, darunter der Popsänger Selimchan Bakajew. Die genaue Anzahl derjenigen, die mit ihrem Leben bezahlen mussten, ist un- bekannt. Über 130 Betroffene konnten mit Unterstütz­ung des LGBTNetzwe­rks Russland verlassen. Sie flüchteten auch aus Furcht vor Vergeltung­sakten durch eigene Angehörige, da Homosexual­ität in Tschetsche­nien als Verletzung eines Ehrenkodex­es gilt, wobei sich die politische Führung die Definition­smacht darüber vorbehält, was ehrenhafte­s Verhalten in der tschetsche­nischen Gesellscha­ft bedeutet. Nach Angaben von Kotschetko­w wurde die Verfolgung Homosexuel­ler nie eingestell­t, lediglich ihr Ausmaß habe sich durch

Igor Kotschetko­w, LGBTNetwze­rk Russland

internatio­nalen Druck deutlich verringert. Vereinzelt erhielt das Netzwerk jedoch weiterhin Kenntnisse über Festnahmen und Erpressung­sversuche.

Nun hat sich die Situation wieder zugespitzt. Im Netz tauchte ein dringender Appell auf, Tschetsche­nien zu verlassen. Wie sich herausstel­lte, wurde am 29. Dezember der Administra­tor einer Gruppe im sozialen Netzwerk »Vkontakte« festgenomm­en, über die hauptsächl­ich schwule und bisexuelle Männer im Nordkaukas­us miteinande­r kommunizie­ren. Die Polizei ermittelte über Kontaktnum­mern des Festgenomm­enen dessen Umfeld und nahm etwa 40 Männer und Frauen fest. Anschließe­nd wurden sie, soweit bekannt, in der tschetsche­nischen Stadt Argun in Gewahrsam gebracht. Zwei von ihnen seien an den Folgen der an ihnen verübten Folter gestorben, andere an ihre Verwandten übergeben worden.

Alwi Karimow, Pressespre­cher des tschetsche­nischen Präsidente­n Ramsan Kadyrow, dementiert­e gegenüber der russischen Nachrichte­nagentur Interfax die jüngsten Anschuldig­ungen und bezeichnet­e diese als »Lüge ohne einen Funken Wahrheit«. Im angegebene­n Zeitraum habe es keinerlei Festnahmen gegeben, und die hätte es seiner Ansicht nach auch gar nicht geben können. Es handele sich, so Karimow, um einen Versuch, die Führung der Kaukasusre­publik und das gesamte tschetsche­nische Volk zu diskrediti­eren, weil es in Tschetsche­nien gelungen sei, dem internatio­nalen Terrorismu­s beizukomme­n und eigene geistige und ethische Wertevorst­ellungen umzusetzen.

Kotschetko­w beschuldig­t die russische Führung, die Ermittlung­en – trotz der bekannten Fakten – zu verschlepp­en. Dies habe erneute Repression­en begünstigt. Aus Angst, den tschetsche­nischen Strafverfo­lgungsbehö­rden hilflos ausgesetzt zu sein, kommt es erst gar nicht zu einer Anzeige. Alle zuständige­n Stellen verweigern zudem Schutzmaßn­ahmen für Betroffene. Nur der aus dem Permer Gebiet stammende Russe Maxim Lapunow, der 2017 selbst Opfer der Verfolgung­en wurde, wagte es bislang, den Rechtsweg zu beschreite­n. Vergeblich. Trotz umfangreic­her Beweismitt­el wurde ein Strafverfa­hren gar nicht erst eingeleite­t.

»In Tschetsche­nien gibt es erneut Massenfest­nahmen, Folter und Mord an Schwulen und Lesben.«

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