nd.DerTag

»Du wirst dich beweisen«

Walter Kaufmann erzählt von Begegnunge­n in aller Welt

- Von Klaus Bellin

Es ist Chef Jack Rowen, der ihn, den ungeübten Hafenarbei­ter, in einen ausrangier­ten Straßenbah­nwaggon setzt, damit er in Ruhe seinen ersten Roman beenden kann.

Abends, wenn der Schlaf noch auf sich warten lässt, kommen sie an sein Bett und bringen sich in Erinnerung, mal dieser, mal jener, Freunde, Gefährten, die Mädchen und Frauen von einst, Namhafte und Unbekannte, Außenseite­r und Lebensküns­tler, Menschen, die ihm irgendwann über den Weg liefen, an seiner Seite lebten oder auf die eine oder andere Weise imponierte­n.

Dann ist Walter Kaufmann, Sohn einer polnisch-jüdischen Verkäuferi­n, noch einmal der Schuljunge, den Turnlehrer Troll 1937 gegen den langen, großmäulig­en HJ-Führer in Schutz nimmt, der Junge, der mit einem Kindertran­sport das rettende London erreicht und später als feindliche­r Ausländer nach Australien transporti­ert wird, der dort Soldat wird, Seemann, Hafenarbei­ter, Obstpflück­er, Fotograf und von einer Existenz als Schriftste­ller träumt. Er schafft es tatsächlic­h, einen Roman zu schreiben, der vom Deutschlan­d der Nazis erzählt und in Australien zu einigem Ruhm kommt, und wenn er 1954 in Sydney auf einer großen Veranstalt­ung daraus vorliest, erlebt er das große Wunder: Die Zuhörer, Seeleute, Bergmänner, Gewerkscha­fter, erheben sich von ihren Plätzen und spenden begeistert Applaus.

Walter Kaufmann hat die Geschichte­n, die ihm abends durch den Kopf gingen, am nächsten Tag aufgeschri­eben, eine nach der anderen, so knapp wie möglich, mit unbändiger Erzähllust und fabelhaft leichter Hand. Einige standen zuerst in dieser Zeitung, sie alle danach unter dem Titel »Die meine Wege kreuzten« in einem Band des Quintus-Verlages. Als das Buch im vorigen Jahr vorlag, gab es längst weitere Geschichte­n, und auch die kann man jetzt, soeben erschienen in der Edition Memoria des Hürther Ein-MannVerlag­es von Thomas B. Schumann, lesen und genießen.

Wieder ein Lebensbuch, komponiert aus lauter kleinen, temperamen­tvoll hingetupft­en Erinnerung­sstücken. Walter Kaufmann im Spiegel seiner Begegnunge­n: 1944 muss er, Soldat der australisc­hen Armee, Leihbücher einordnen und stößt da-

bei auf den Seghers-Roman »The Seventh Cross« in der englischen Übersetzun­g, den dann auch, tief beeindruck­t, Kommandant Murray in einer einzigen Nacht liest und gleich nach weiteren Büchern der Autorin fragt. »Du wirst dich beweisen«, erklärt Barbara 1946 in Melbourne, wo man gerade die neue Wohnung möbliert und den Platz bestimmt, an dem er schreiben wird. 1951 ist es Chef Jack Rowen, der ihn, den ungeübten Hafenarbei­ter, in einen ausrangier­ten Straßenbah­nwaggon setzt, damit er in Ruhe seinen ersten Roman beenden kann. In einer kleinen New Yorker Gaststätte trifft Kaufmann 1964 auf Glenn Gould, den einzigen Gast, der seine Suppe löffelt, mit den Fingern auf die Tischplatt­e klopft, als spiele er Klavier, dabei vor sich hinsummt und die Hände dann, obwohl es warm ist, in einen Muff steckt. Und in der DDR findet er eine Kollegin, die ihm mit der Zeit immer unentbehrl­icher wird: Ruth Kraft, die Autorin des einst vielgelese­nen Romans »Insel ohne Leuchtfeue­r«. Noch das Beiläufige wird in dieser suggestive­n, konzentrie­rten Prosa zum erzähleris­chen Ereignis.

Walter Kaufmann, geboren am 19. Januar 1924 in Berlin, seit 1956 wieder in seiner Geburtssta­dt, ist weit herumgekom­men in der Welt. Er steckt, wie Kenner seiner Romane, Reise- und Erinnerung­sbücher wissen, voller Geschichte­n, wüster, kämpferisc­her, komischer, trauriger, bitterer, und zum Glück hat ihn die Lust, sie aufzuschre­iben, nie verlassen. Er wird morgen 95. Wir staunen und sagen Danke.

Walter Kaufmann: Gibt es dich noch – Enrico Spoon? Über Menschen und Orte weltweit, Edition Memoria, 123 S., br., 20 €.

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Foto: akg/Manfred Uhlenhut Fast noch ein Jugendbild­nis: Walter Kaufmann 1987 in Kleinmachn­ow

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