Leise rieselt der HURZ!
Zeitgenössischer Kannibalismus: »Violetter Schnee« von Beat Furrer an der Staatsoper Berlin
Es ist einfach, sich über die E-Musik der Moderne lustig zu machen. Erich Wolfgang Korngold zum Beispiel hatte nicht viel übrig für seine »atonalen« Kollegen. Deswegen konnte er es schon 1931 nicht lassen, »Vier kleine Karikaturen« zu komponieren, in denen er Schönbergs, Bartoks, Strawinskys und Hindemiths stilistische Redundanz veräppelte. Hape Kerkeling tat es 60 Jahre später besonders prominent, in einem TV-Sketch, in dem er das intellektuelle Publikum mit einer fiktiven Peter-und-der-Wolf-Variation eines fiktiven polnischen Komponisten foppte. »HURZ!«, schrie der Tenor nach erratischer Nonsens-Poesie von Wölfen, Lämmern und grünen Wiesen.
Am vergangenen Sonntag fand in der Staatsoper Unter den Linden die erste große Uraufführung zeitgenössischer Musik im renovierten Saal statt. Beat Furrer, ein Österreicher aus der Schweiz, komponierte im zarten Alter von 64 Jahren das Bühnenstück »Violetter Schnee« als Auftragsarbeit für Berlin. Eine Oper von eindreiviertel Stunden in einem Akt für sechs Solisten, ein paar Tänzer, einen kleinen Chor sowie ein Orchester mit viel Percussion. Es geht ums im Schnee eingeschlossene Bürgertum, das dem Wahnsinn der sie erdrückenden weißen Masse verfällt. Ein Glück, dass dies im Alpenraum gerade wirklich passiert – Tagesaktualität adelt!
Diffuses Unbehagen ließ sich in der »Neuen Musik« schon immer am einfachsten erzeugen. In »Violetter Schnee« wechseln sich Geklimper auf Xylophonen, Trommeln und Metallgegenständen mit langgezogenen Akkorden ab. Streicher und Bläser stottern und gähnen, Sänger und Publikum tun es ebenso. Man stelle sich vor, man hätte ein Mischpult und daran zwei CD-Spieler: links Pierre Boulez, rechts Hans Zimmer. Wenn man dann zum Zweck der Dynamik zwischen den hüpfenden Klangcollagen der 50er Jahre und den schleppenden Flächen eines Filmsoundtracks der 00er Jahre hin- und herwechselt, ist man bei Furrer angelangt. Er »gilt als einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart«, so steht es jedenfalls im Programmheft zu »Violetter Schnee«.
Inszeniert hat diese so gut wie narrationslose Befindlichkeitsaufnahme Claus Guth, der im April in Wien mit Händels »Orlando« premiert. Er kann froh sein, dass er mit Étienne Pluss einen hervorragenden Bühnenbildner und Adrian Andiel einen hervorragenden Videokünstler zur Seite hat, um diese drückende Langeweile wenigstens visuell faszinieren zu lassen. Denn das Schneetreiben ist hervorragend in Szene gesetzt. Abwechselnd in einem Bunkerbau mit endlosen Treppenhäusern und auf einem städtischen Marktplatz verwehen die Protago- nisten hinter den Projektionen des sich verändernden Digitalschnees. Mal weht er stürmisch wirbelnd, mal fällt er nur zaghaft, aber immer andauernd die tödlichen Haufen vergrößernd. Über horizontale Blickachsen ziehen unheimliche Jäger in Zeitlupe. Sie sind grotesk wie bei Murnaus Nosferatu, mit vom Schatten langgezogenen Gliedmaßen.
Es singen Anna Prohaska, Elsa Dreisig, Gyula Orendt, Georg Nigl, Otto Katzameier und es spricht Martina Gedeck. Letztere eröffnet den Abend mit abgehackter Apokalypsenlyrik. Das Diffuse bleibt so schön diffus, wenn man es nicht ganz ausspricht und mit ein paar Grausamkeiten schmückt: »hungrig sind sie : glaube ich : die : sie tragen : was sie haben : einen fuchs : geholt : zu sich : ihren toten : essen will ich : fressen : fleisch : wärmt mich.« Menschliche Bedürfnisse werden erwähnt, und weil Omnivorismus 2019 sogar schon beim Tier anrüchig ist, gruseln sich alle vor der Viehischkeit, die in jedem Fall Kannibalismus sein muss. Gesponnen hat dieses Libretto übrigens der ebenso österreichische Händl-Klaus, nach der Vorlage von Wladimir Sorokin (»Der Schneesturm«). Seine Verse schreibt er (Händl) durchgehend klein, mit Atempausen als Doppelpunkt und historisierenden Anklängen von Sprachgenuss durch konsonantenreiche Wörter – im Osterland hat man nicht vergessen, dass Stefan George 1891 auch einmal Wien besuchte.
Wenn nach 105 Minuten die Auslöschung eintritt, dann ist nicht viel passiert. Der grausame Mond oder die grausame Sonne färbt den Schnee violett, der Tod tritt ein. Zuvor hat man fantasiert, gewahnsinnt, deliriert. Dabei bleibt es auch hinsichtlich Furrers Komposition. Nichts Neues, nichts Bewegendes, nur Diffuses diffus diffundiert. Zur Beruhigung aller Verwirrten, die rätselten, ob die Bedeutungsebenen nichtig oder endlos waren, wurde zum Glück das Gemälde »Jäger im Schnee« (1565) von Pieter Bruegel dem Älteren auf einen Vorhang projiziert. War also doch Kunst. HURZ!
Das Diffuse bleibt so schön diffus, wenn man es nicht ganz ausspricht und mit ein paar Grausamkeiten schmückt.
Nächste Aufführungen am 24., 26. und 31. Januar.