Kinder, habt keine Angst
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler ist tot
Mirjam Pressler war eine der produktivsten Schriftstellerinnen des Landes. Am Mittwoch starb sie im Alter von 78 Jahren in Landshut. Sie schrieb Kinder- und Jugendbücher, ab den Nullerjahren auch Belletristik für Erwachsene. Außerdem übersetzte sie zirka 400 Titel, beispielsweise aus dem Hebräischen Werke von Amos Oz oder Zeruya Shalev oder aus dem Niederländischen die Kritische Ausgabe der Tagebücher der Anne Frank, über die Pressler auch selbst Bücher schrieb, die Schullektüre wurden.
Ihre über 50 Bücher handeln oft von Außenseitern, wie der vereinsamten Ilse in »Novemberkatzen« (1982), dem gehbehinderten Thomas in »Stolperschritte« (1981) oder dem verängstigten Herbert in »Kratzer im Lack« (1981). Es sind »Meilensteine der realistischen, sozialkritischen und geschichtsbewussten Jugendliteratur« gratulierte die »junge Welt« zu ihrem 70. Geburtstag 2010.
Mirjam Pressler hatte erst im Alter von 40 Jahren mit dem Schreiben begonnen, nachdem sie in MünchenSchwabing mit einem Jeansladen, den sie mit einen Freund hatte, gescheitert war. Sie war alleinerziehende Mutter dreier Kinder und hatte einen Halbtagsjob, der aber nur für die Miete reichte. Um mehr zu verdienen, machte sie einen Taxischein und schrieb ein Jugendbuch, das besser sein sollte als das Zeug, das ihre Kinder lasen. Taxi musste sie nie fahren, denn ihr 1980 erschienener Roman »Bitterschokolade« wurde ein großer Erfolg und verkaufte 400 000 Exemplare.
Darin geht es um die 15-jährige Eva, die sich zu dick fühlt, melancholisch Leonard Cohen hört, viele Süßigkeiten isst und sich dann erfolgreich verliebt, was ihr aber neue Probleme beschert. Ein schönes Buch aus der Zeit, als es noch links-engagierte, emanzipativ-antiautoritär ausgerichtete Jugendliteratur gab, veröffentlicht vorrangig bei Beltz & Gelberg. Dessen Bücher waren in Buchläden und Bibliotheken mit ihren orange umrandeten Covern gut wiedererkennbar. Ebenso seine Autoren Peter Härtling, Klaus Kordon, Janosch oder Christine Nöstlinger die ihre jungen Leser dazu aufriefen, sich selbst zu vertrauen und keine Angst zu haben. Einer solcher Ansatz gilt auch für das Leben von Mirjam Press- ler. Gegenüber der »Welt« bezeichnete sie 2010 ihr Schreiben als »die Erlösung des sprachlosen Kindes, das ich einmal war«.
Sie wurde am 18. Juni 1940 in Darmstadt geboren und von ihrer jüdischen Mutter in eine Pflegefamilie auf dem Land gegeben, in der es eng, hart und bildungsfern zuging. »Die Enkel meiner Pflegeeltern waren älter als ich. Als sie in die Schule kamen, habe ich mit ihnen lesen gelernt«, erzählte Pressler 2015 der »Zeit«, »bei uns im Ort wohnte auch eine reiche Familie, da hatte jedes Kind einen Bücherschrank. Ich habe dort alles leer gelesen, sämtliche Klassiker, Karl May, alles.« Später wurde sie vom Jugendamt in ein Heim gesteckt, ging dann aber auf ein Gymnasium. In Frankfurt und München studierte sie Bildende Kunst, Englisch und Französisch, und ging dann vorübergehend mit ihrem damaligen Mann nach Israel, wo sie bis 1970 in einem Kibbuz arbeitete.
In einigen ihrer Bücher setzte sich Pressler mit ihrer jüdischen Herkunft auseinander. In »Shylocks Tochter« (1999) und »Nathans Kinder« (2009) erzählte sie Shakespeare und Lessing neu. In »Malka Mai« (2001) beschrieb sie die Flucht einer jüdischen Mutter mit ihren beiden Töchtern über die Karpaten.
Gegenüber der »Welt« nannte sie ihr Schreiben »die Erlösung des sprachlosen Kindes, das ich einmal war«.
Die »Zeit« nannte dies die »religiösen Themen«, worauf Pressler sagte: »Mir geht es dabei aber nicht um Religion. Mich interessiert die Geschichte, und Religion ist wichtig, um die Geschichte zu verstehen. Heute spielt sie ja im allgemeinen Bewusstsein keine große Rolle mehr, zum Glück. Mein Traum wäre ja die totale Säkularisierung.«