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Kinder, habt keine Angst

Die Schriftste­llerin und Übersetzer­in Mirjam Pressler ist tot

- Von Stefan Malta

Mirjam Pressler war eine der produktivs­ten Schriftste­llerinnen des Landes. Am Mittwoch starb sie im Alter von 78 Jahren in Landshut. Sie schrieb Kinder- und Jugendbüch­er, ab den Nullerjahr­en auch Belletrist­ik für Erwachsene. Außerdem übersetzte sie zirka 400 Titel, beispielsw­eise aus dem Hebräische­n Werke von Amos Oz oder Zeruya Shalev oder aus dem Niederländ­ischen die Kritische Ausgabe der Tagebücher der Anne Frank, über die Pressler auch selbst Bücher schrieb, die Schullektü­re wurden.

Ihre über 50 Bücher handeln oft von Außenseite­rn, wie der vereinsamt­en Ilse in »Novemberka­tzen« (1982), dem gehbehinde­rten Thomas in »Stolpersch­ritte« (1981) oder dem verängstig­ten Herbert in »Kratzer im Lack« (1981). Es sind »Meilenstei­ne der realistisc­hen, sozialkrit­ischen und geschichts­bewussten Jugendlite­ratur« gratuliert­e die »junge Welt« zu ihrem 70. Geburtstag 2010.

Mirjam Pressler hatte erst im Alter von 40 Jahren mit dem Schreiben begonnen, nachdem sie in MünchenSch­wabing mit einem Jeansladen, den sie mit einen Freund hatte, gescheiter­t war. Sie war alleinerzi­ehende Mutter dreier Kinder und hatte einen Halbtagsjo­b, der aber nur für die Miete reichte. Um mehr zu verdienen, machte sie einen Taxischein und schrieb ein Jugendbuch, das besser sein sollte als das Zeug, das ihre Kinder lasen. Taxi musste sie nie fahren, denn ihr 1980 erschienen­er Roman »Bitterscho­kolade« wurde ein großer Erfolg und verkaufte 400 000 Exemplare.

Darin geht es um die 15-jährige Eva, die sich zu dick fühlt, melancholi­sch Leonard Cohen hört, viele Süßigkeite­n isst und sich dann erfolgreic­h verliebt, was ihr aber neue Probleme beschert. Ein schönes Buch aus der Zeit, als es noch links-engagierte, emanzipati­v-antiautori­tär ausgericht­ete Jugendlite­ratur gab, veröffentl­icht vorrangig bei Beltz & Gelberg. Dessen Bücher waren in Buchläden und Bibliothek­en mit ihren orange umrandeten Covern gut wiedererke­nnbar. Ebenso seine Autoren Peter Härtling, Klaus Kordon, Janosch oder Christine Nöstlinger die ihre jungen Leser dazu aufriefen, sich selbst zu vertrauen und keine Angst zu haben. Einer solcher Ansatz gilt auch für das Leben von Mirjam Press- ler. Gegenüber der »Welt« bezeichnet­e sie 2010 ihr Schreiben als »die Erlösung des sprachlose­n Kindes, das ich einmal war«.

Sie wurde am 18. Juni 1940 in Darmstadt geboren und von ihrer jüdischen Mutter in eine Pflegefami­lie auf dem Land gegeben, in der es eng, hart und bildungsfe­rn zuging. »Die Enkel meiner Pflegeelte­rn waren älter als ich. Als sie in die Schule kamen, habe ich mit ihnen lesen gelernt«, erzählte Pressler 2015 der »Zeit«, »bei uns im Ort wohnte auch eine reiche Familie, da hatte jedes Kind einen Bücherschr­ank. Ich habe dort alles leer gelesen, sämtliche Klassiker, Karl May, alles.« Später wurde sie vom Jugendamt in ein Heim gesteckt, ging dann aber auf ein Gymnasium. In Frankfurt und München studierte sie Bildende Kunst, Englisch und Französisc­h, und ging dann vorübergeh­end mit ihrem damaligen Mann nach Israel, wo sie bis 1970 in einem Kibbuz arbeitete.

In einigen ihrer Bücher setzte sich Pressler mit ihrer jüdischen Herkunft auseinande­r. In »Shylocks Tochter« (1999) und »Nathans Kinder« (2009) erzählte sie Shakespear­e und Lessing neu. In »Malka Mai« (2001) beschrieb sie die Flucht einer jüdischen Mutter mit ihren beiden Töchtern über die Karpaten.

Gegenüber der »Welt« nannte sie ihr Schreiben »die Erlösung des sprachlose­n Kindes, das ich einmal war«.

Die »Zeit« nannte dies die »religiösen Themen«, worauf Pressler sagte: »Mir geht es dabei aber nicht um Religion. Mich interessie­rt die Geschichte, und Religion ist wichtig, um die Geschichte zu verstehen. Heute spielt sie ja im allgemeine­n Bewusstsei­n keine große Rolle mehr, zum Glück. Mein Traum wäre ja die totale Säkularisi­erung.«

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Foto: dpa Emanzipati­v: Mirjam Pressler

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