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Zettel rein

Vor 100 Jahren wurde die Nationalve­rsammlung gewählt – auch von Frauen.

- Von Gisela Notz

Vor 100 Jahren gingen Frauen an die Urnen. Das klingt wenig sensatione­ll, war es aber.

Am 19. Januar 1919, vor 100 Jahren, wählten Männer und Frauen gemeinsam das erste demokratis­che Parlament: die Nationalve­rsammlung, die die Weimarer Verfassung formuliere­n sollte. Die Wahlbeteil­igung war mit 82,4 % der wahlberech­tigten Männer und 82,3 % der wahlberech­tigten Frauen hoch. Es wählten gut zwei Millionen mehr Frauen als Männer, weil sich unter den 32,7 Millionen Wahlberech­tigten 17,7 Millionen Frauen befanden.

Die Frauen in Deutschlan­d haben das Wahlrecht nicht geschenkt bekommen, seine Einführung war vielmehr das Ergebnis eines langen Frauenrech­ts- und Klassenkam­pfes. Denn gerade in dieser Frage bestand »ein enormer Unterschie­d zwischen arbeitende­n Frauen und den besitzende­n Ladies, zwischen einer Dienerin und ihrer Herrin« (Alexandra Kollontai). Ohne den Kampf der Sozialisti­nnen, die hartnäckig an drei »Fronten« kämpfen mussten – gegen die Repression der Behörden, gegen die Frauenfein­dlichkeit mancher Genossen und gegen viele bürgerlich­e Frauen – wäre das Frauenwahl­recht nicht durchgeset­zt wor den.

Ein Endpunkt der im November 1918 begonnen Revolution waren die Wahlen nicht. Zeitlich lagen sie mitten in den Revolution­sereigniss­en, die vom Oktober 1918 bis zu ihrem gewaltsame­n Ende im Juni 1919 dauerten. Zwar war der Obrigkeits­staat zusam- mengebroch­en, die Forderunge­n der rebelliere­nden Arbeiterma­ssen nach höheren Löhnen, Durchsetzu­ng kürzerer Arbeitszei­ten und Sozialisie­rung der großen Industrien waren jedoch lange nicht erfüllt. Der Wunsch danach, Verantwort­ung und Macht an die Räte zu übergeben, die sich nach dem Matrosenau­fstand Anfang November 1918 von Kiel ausgehend in nahezu sämtlichen deutschen Städten gebildet hatten, war noch nicht erloschen.

Nicht nur die meisten Frauen in der USPD kämpften weiter für eine demokratis­che Räterepubl­ik. Die KPD, die am 1. Januar 1919 gegründet worden war, hatte sich gar nicht an den Wahlen beteiligt, weil sie ebenfalls die Räterepubl­ik wollte, und für viele Linke war der Wahltag überschatt­et von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknecht­s vier Tage zuvor.

Zwischen Räten und Parlament

Der Rat der Volksbeauf­tragten, der im Zuge der revolution­ären Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg ab dem 10. November 1918 die höchste Regierungs­gewalt inne hatte, war es, der in seiner Erklärung an das deutsche Volk vom 12. November 1918 verkündete: »Alle Wahlen zu öffentlich­en Körperscha­ften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeine­n Wahlrecht … für alle mindestens 20 Jahre alten männli- chen und weiblichen Personen zu vollziehen.«

Jener Rat der Volksbeauf­tragten, dessen Vorsitzend­er der Mehrheitss­ozialdemok­rat Friedrich Ebert war, hatte zunächst aus Männern der MSPD und USPD bestanden. Friedrich Ebert hasste die Revolution wie die Sünde, Rosa Luxemburg und ihre Anhängerin­nen fanden sie großartig. Es war der mehrheitss­ozialdemok­ratische Rat, der sich für die baldigen Wahlen zu einer verfassung­sgebenden Nationalve­rsammlung einsetzte, als die USPD-Mitglieder ihn bereits verlassen hatten. Sie wollten die Nationalve­rsammlung nicht, jedenfalls nicht so schnell und überstürzt. Die Arbeiter- und Soldatenrä­te arbeiteten weiter. Etliche Frauen waren in der revolution­ären Rätebewegu­ng aktiv, dazu gehörten Tony Sender, Anita Augspurg, Lida Gustave Heymann, Anna Nemitz, Sonja Lerch und andere. Luise Zietz, die einflussre­ichste Frau in der USPD, rief noch im April 1919, als sie längst selbst in der Nationalve­rsammlung saß, zur Eroberung der Macht und zum Aufbau der sozialisti­schen Gesellscha­ft auf.

Frauen in den Parlamente­n

Die Konzepte der wenigen Frauen in den Räten konnten nicht mehr umgesetzt werden, weil mit dem Zusammentr­eten der Nationalve­rsammlung die Bedeutung der Räte bereits abgenommen hatte. Insgesamt zogen mit vier Nachrücker­innen 41 Frauen in die Nationalve­rsammlung ein, das war ein Anteil von fast zehn Prozent der Abgeordnet­en. Ein Frauenante­il in dieser Höhe wurde auf nationaler Ebene erst bei der Bundestags­wahl 1983 wieder erreicht. Luise Zietz kämpfte in der Nationalve­rsammlung vergebens gegen die konservati­ven Parteien und die SPD für eine sozialisti­sche Republik. Die meisten ihrer Anträge zur Aufnahme einer emanzipato­rischen Gleichstel­lungs-, Frauen-, Familien- und Sozialpoli­tik in die Weimarer Verfassung wurden abgelehnt. Am 14. August 1919 wurde die Weimarer Verfassung verkündet. Allerdings versuchte keine Partei mehr, das Frauenstim­mrecht anzutasten.

Von den 467 Parlaments­mitglieder­n, die im Juni 1920 in den Deutschen Reichstag der Weimarer Republik einzogen, waren 37 (8,7 %) Frauen, vier Nachrücker­innen kamen später hinzu. 22 Parlamenta­rierinnen gehörten SPD und USPD an, die restlichen 15 verteilten sich auf die konservati­ven, liberalen und katholisch­en Parteien. Marie Juchacz (SPD) verwies in ihrer ersten Rede – der ersten überhaupt, die eine Frau in einem Deutschen Parlament gehalten hat – darauf, dass die Gleichbere­chtigung in zivilrecht­licher und wirtschaft­licher Beziehung auch jetzt noch lange nicht erreicht sei. Luise Zeitz (USPD) kommentier­te am nächsten Tag die ersten Vorlagen der Regierung und wurde immer wieder durch Zwischenru­fe unterbroch­en, während sie die Gemeinsamk­eiten zwischen SPD- und USPD-Frauen hervorhebe­n wollte. Die Sozialisti­nnen brachten frischen Wind und neue Themen in das Parlament, denn sie sorgten dafür, dass soziale Probleme, die die unteren Schichten betrafen, zu denen die meisten als Dienstmädc­hen oder Arbeiterin­nen einmal selbst gehört hatten, öffentlich diskutiert wurden und dass die Sozialgese­tzgebung nach deren Interessen weiterentw­ickelt wurde. Die liberalen und konservati­ven Volksvertr­eterinnen sahen sich eher als Repräsenta­ntinnen ihres Standes.

Das Rad der Zeit zurückgedr­eht

15 Jahre lang konnten Frauen in Deutschlan­d wählen und durften gewählt werden. Dann wurde das Rad der Zeit zurückgedr­eht. Daran war der zu einem nicht unerheblic­hen Teil von Frauen unterstütz­te NaziFaschi­smus schuld. Frauen sollten sich wieder auf ihre »natürliche Funktion« besinnen und das hieß jetzt: »dem Führer Kinder schenken«; und wenig später hieß es: Dienstverp­flichtung in den Rüstungsfa­briken. Gleichscha­ltung und Auflösung machten auch vor den Frauenorga­nisationen nicht halt. Sozialdemo­kratische, kommunisti­sche und andere linke Frauenorga­nisationen wurden verboten. Die bereits im Oktober 1931 gegründete Nationalso­zialistisc­he Frauenscha­ft erhob als »Eliteorgan­isation« den Anspruch auf die politische und kulturelle Führung der gesamten Frauenarbe­it. Frauen wurden nicht nur aus den verschiede­nsten Gremien ausgeschlo­ssen, sondern es wurde ihnen auch das passive Wahlrecht genommen, indem sie nicht mehr aufgestell­t wurden. Die weiblichen Reichstags­abgeordnet­en verloren ihre Mandate.

Erst nach 1945 konnten Frauen wieder an die demokratis­che Entwicklun­g der Weimarer Republik anknüpfen. Auch wenn es mit der »Frauenfrag­e« trotz rechtliche­r Gleichstel­lung nur langsam voranging, konnte einiges erreicht werden. In den letzten Jahren sind es gerade die jüngeren Frauen, die gegen das Unrecht der patriarcha­len Ordnung ankämpfen. Darauf hinzuweise­n, dass eine Demokratie unvollende­t ist, solange die soziale und geschlecht­erspezifis­che Ungleichhe­it fortbesteh­t, war und ist die

Aufgabe von Geschlecht­erpolitik innerhalb und außerhalb der Parlamente. Auch wenn wir aktuell in den Zeiten des Rechtsruck­s und der Wiederaufl­age konservati­ver Frauenund Familienbi­lder sowie antifemini­stischer und sexistisch­er Haltungen damit beschäftig­t sind, dafür zu kämpfen, dass das Rad der Zeit nicht erneut von konservati­ven Kräften zurückgedr­eht wird. Ohne breite Bündnisse, die das hindern wollen, wird es nicht zu schaffen sein.

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Abbildunge­n: wikimedia (CC 2.0) [M]
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Foto: privat Die Berliner Sozialwiss­enschaftle­rin und Historiker­in Gisela Notz forscht seit Langem zur Frauenbewe­gung. Zuletzt erschienen ist ihr Buch »Wegbereite­rinnen: Berühmte, bekannte und zu Unrecht vergessene Frauen aus der Geschichte«, 2018, AG Spak Bücher, 430 Seiten, 24 Euro.

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