Das Populäre war früher besser
Der Schlager boomt und der Schlager steckt in der Krise. Beide Aussagen sind richtig: Die erste bezieht sich auf den kommerziellen Erfolg, die zweite auf die künstlerische Qualität.
Helene Fischer, laut »Forbes« mit einem Jahresgehalt von 28 Millionen Euro in den Top Ten der gewinnbringendsten Sängerinnen der Welt, hat beinahe im Alleingang den Schlager wieder salonfähig gemacht. Selbst bei »Deutschland sucht den Superstar« singt man nun vorzugsweise Schlager, früher hatte Dieter Bohlen seine eigenen Schlagerkompositionen lieber verschwiegen. Auch Fischers Ex-Freund Florian Silbereisen ist längst nicht mehr der Betreuer greiser Zuschauer, bei seiner Sendung mit dem diagnostischen Titel »Schlagerboom« sitzen beachtlich viele junge Menschen im Publikum, oft stehen sie sogar – wie bei einem richtigen Rockkonzert. Der poppige Sound der Lieder verrät nicht, ob da noch ein echtes Instrument spielt, und die Texte erzählen selten etwas, stattdessen werden darin affektive Signalwörter beliebig aneinandergereiht.
Gut, dass es YouTube gibt. Dieses stetig wachsende Fernseharchiv hält fest, dass der Schlager einmal bessere Zeiten hatte, sieht man sich zum Beispiel die live gesungenen Finale der von 1957 bis 1987 ausgestrahlten Unterhaltungsshow »Der blaue Block« an. Moderator Heinz Schenk gab stets ein Thema vor, etwa »Rosen« oder »Träume«, dann sangen Operntenöre und Operettensoubretten neben Schlagerstars die entsprechenden Lieder. E- und U-Musik trafen sich hier: Schenk liebte die Oper, Lia Wöhr, die Produzentin der Show, war sogar Opernregisseurin, auch viele Schlagerkomponisten wie Christian Bruhn (»Wunder gibt es immer wieder«) erfuhren eine klassische Sozialisation. Selbst der damalige »Stimmungsmacher der Nation«, Tony Marshall, ist ausgebildeter Opernsänger, und der in der Äppelwoi-seligen Sendung gern gesehene Gast René Kollo reüssierte vor seiner Helden- tenor-Karriere als Schlagersänger. Diese Nähe des Schlagers zur klassischen Musik, speziell zur Operette, war unüberhörbar in den Stimmen, den Arrangements, den Texten. Heutige Schlager orientieren sich am internationalen Pop, auf einem hochkulturellen Fundament stehen sie nicht mehr.
Man kann diese Entwicklung als eine Geschichte des allmählichen Niedergangs beschreiben, die um 1900 mit der Operettenära begann. Jacques Offenbach starb 1880, Johann Strauß 1899. Offenbach hatte mit »Pariser Leben« ebenso Maßstäbe gesetzt wie Strauß mit »Die Fledermaus«, danach wurden Operetten mehr und mehr zu Nummernrevuen, sie zersplitterten in schlagertaugliche Arien. Im Berlin der Zwanziger wurden Operetten am Fließband produziert, so unterhielt Paul Abraham eine regelrechte Komponierfabrik. Abraham erfand Melodien, die Endfassungen erstellten andere für ihn. Zeitgleich schrieb der Filmkritiker und Operettenkenner Siegfried Kracauer in ähnlicher Geschwindigkeit Feuilletons.
»Kracauers Feuilletons haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine narrative Struktur«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza in ihrem Buch »Der populäre Pakt«. Darin geht sie der Frage nach, inwiefern es eine besondere Verbindung zwischen der Operette und dem Feuilleton gibt. Eine befriedigende Antwort gibt die Autorin bedauerlicherweise nicht – rasch wird man von den vielen Anekdoten, den sprunghaften Nacherzählungen von zumeist eher unbekannten Operetten und umso bekannteren politischen Theorien (Max Weber, Carl Schmitt), den Close Readings einzelner Feuilletons und den umständlichen Formulierungen derart durchgewirbelt wie von sämtlichen Offenbach-Cancans nicht. Dabei ist der Ansatz interessant: Hat die »kleine Form« des Feuilletons ihr Pendant in den Operetten mit den von der Handlung weitgehend losgelösten Schlagern?
»Der weiche Begriff der ›kleinen Form‹, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Wien aufkam und zum Synonym der leichten Feuilletonprosa wurde – auch zum Stigma literarischer Anspruchslosigkeit, gegen das viele Autoren mit Feuilletons übers Feuilleton ankämpften –, bietet dafür gerade seiner Elastizität wegen eine geeignete terminologische Klammer«, erklärt Matala de Mazza, um so auch zum Politischen im Populären (der Operette und des Feuilletons) zu gelangen. Bekanntlich sah Kracauer Filme als »Spiegel der Gesellschaft« an, so betrachtete er auch die Operette; Matala de Mazza macht sich diesen Blick zu eigen, analysiert, wie sich in Offenbachs Operetten die rauschhafte Politik von Napoleon III. widerspiegelt, und zeigt anhand von Franz Lehárs »Lustiger Witwe«, wie die Monarchie ihrem Ende entgegentanzt. In den 20er Jahren wehen dann die Operettengassenhauer durch die Städte wie lose Blätter, Feuilletons eben.
Die kleinen Formen, seien sie musikalisch oder journalistisch, erzählen damit eine andere Geschichte als die großen Erzählungen großer Männer und großer Romane. Das Populäre ist politisch, aber eben im Sinne einer modernen Massendemokratie, einer sich ausbreitenden Urbanität mit der neuen Klasse der Angestellten. Zwar sind die Hauptakteure in Operetten fast immer Grafen und Baronessen, dennoch ist deren Betragen wenig aristokratisch. Wenn Graf Danilo mit »Da geh’ ich ins Maxim« den berühmtesten Hit aus »Die lustige Witwe« zum Besten gibt, beschreibt er 1905 den Arbeitsalltag der Angestelltenwelt avant la lettre: »Die Akten häufen sich bei mir, ich finde ’s gibt zu viel Papier; ich tauch die Feder selten ein und komm doch in die Tint’ hinein!« Die Operette überlebte zwar die Nazizeit in Musikfilmen der UFA, doch die meisten bedeutenden Operettenkomponisten waren tot oder exilierten. Weder auf inhaltlicher noch auf musikalischer Ebene wurde die Grenzüberschreitung noch angestrebt, das Leichte wurde schwer, das Rasante gebremst, das Schlüpfrige zugeknöpft. Und so waren die aus dieser Entwicklung resultierenden Schlager der 60er und 70er Jahre bei aller Qualität größtenteils nur noch domestizierte Schwundstufen der untergegangenen Operettentradition, wie auch die Operettendarbietungen im Fernsehen mit dem berüchtigten Tanz auf dem Vulkan nichts mehr zu tun hatten. Die Arrangements und Inszenierungen waren so statisch wie Anneliese Rothenbergers Betonfrisur; die Peter-AlexanderShows oder auch »Der blaue Bock« boten bei allem musikalischen Können der Stars eine Wohlanständigkeit, die in ihrer Ablehnung jeglicher Frivolität nachgerade pervers wirkt.
»Die Operette ist der Raum der Verkleinerung schlechthin«, schreibt Theodor W. Adorno 1932. Doch es ging immer noch kleiner – bis man irgendwann in der Gegenwart beim discofoxtrottenden Schlager angekommen war. Ob die kleine Form des Feuilletons parallel auch derart gelitten hat? Lassen wir die Antwort offen. Jedenfalls hat sich der Schlager heute gänzlich von der Operette befreit, doch er führt nicht in die Freiheit. Wenn auch Helene Fischer »So losgelöst frei, frei, frei, wir sind Flieger« singt, stehen alle fest auf dem Boden, um rhythmisch zu stampfen. Und selbst Anneliese Rothenberger wirkt dagegen wie der pure Rausch.
Die Operette überlebte zwar die Nazizeit in Musikfilmen der UFA, doch die meisten bedeutenden Operettenkomponisten waren tot oder exilierten. Weder auf inhaltlicher noch auf musikalischer Ebene wurde die Grenzüberschreitung noch angestrebt, das Leichte wurde schwer, das Rasante gebremst, das Schlüpfrige zugeknöpft.
Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton, S. Fischer, 480 S., geb., 25 €.