Hildegard Welbers im Gespräch über Sex, HIV und die Angst
Hildegard Welbers fiel es schwer, ihrem Sohn zu erzählen, dass sie HIV-positiv ist. Weil immer noch viele Menschen glauben, dass HIV nur Junkies und Schwule betrifft.
Vor dem Gespräch in Berlin muss Hildegard Welbers den Koffer ins Hotelzimmer bringen. Sie ist aus Lübeck angereist, wo sie sich im Vorstand der Aids-Hilfe engagiert. Für den kommenden Tag ist sie zum Neujahrsempfang des Bundespräsidenten eingeladen. Der Terminkalender ist voll, wie immer.
Fünf Jahre haben Sie gebraucht, Ihrem Sohn von Ihrer HIV-Infektion zu erzählen. Warum war das so schwierig?
Weil es so ein Tabuthema ist. Es wird in die »Schmuddelecke« geschoben. Ich dachte immer: Es gehört sich nicht, als Mutter positiv zu sein. Mein Sohn hat es aber gut aufgefasst und gesagt, dass er hinter mir steht. Bei ganz vielen Menschen ist es anders. Sie denken: Ich bin nicht schwul, keine Prostituierte, kein Junkie – also geht mich das alles gar nichts an. Bis man sich da offen zu reden traut, muss man einen unheimlichen Hügel überwinden. Das ist anders, wenn man Krebs hat – was wirklich schlimm ist. Aber man kann es aussprechen. Da hat niemand gleich Angst angesteckt zu werden.
Es gibt immer noch diese Angst vor dem Sexuellen. Dabei sehen wir ja an jeder Ecke nackte Frauen und Männer. Aber wenn es um einen selbst geht … Ich kann das nachvollziehen. Ich bin sehr altmodisch erzo- gen worden, bin vom Dorf und katholisch. Über Sexualität zu reden gab es überhaupt nicht. Auch mit meinem ersten Mann: Wir haben über Sex nicht reden können. Das muss man erst lernen.
War HIV für Sie ein Thema, bevor Sie selbst betroffen waren?
Nein, überhaupt nicht. Weil ich nur ganz lange, feste Beziehungen hatte. Ich bin so eine treue Tomate. Ich hatte eine 19-jährige Ehe hinter mir. Zwei Jahre später lernte ich meinen zweiten Mann kennen, der mich infiziert hat – was er aber nicht wusste. Wir haben uns vermeintlich geschützt. Zweimal ist das Kondom gerissen, das reichte.
Wie haben Sie es erfahren?
Ich bekam vom Blutspendedienst ein Schreiben: Kommen Sie doch mal auf ein kurzes Gespräch mit dem Arzt vorbei, ihre Blutwerte sind etwas abweichend. Ich dachte: Vielleicht habe ich Eisenmangel oder niedrigen Blutdruck. Dann bekam ich die Diagnose. Der Arzt konnte das gar nicht richtig vermitteln. Er druckste herum, da wurde ich ungeduldig. Schließlich hat er mir die Diagnose einfach so hingeschmissen: »Sie sind halt HIV-positiv.« Heute weiß ich, dass er mir das Ergebnis erst nach einem zweiten Test hätte mitteilen dürfen. Was hätte er anders machen sollen?
Ich hätte mir gewünscht, dass er empathisch mit mir umgeht und nützliche Informationen gibt. So ein Gespräch muss nicht lange dauern. Aber es ist extrem wichtig, wie es geführt wird. Ich hätte mir gewünscht, dass er sagt: Medizinisch kann ich Sie begleiten, aber für die psychischen Dinge ist die Aids-Hilfe ein guter Ansprechpartner. Dann wäre es anders ausgegangen. Ganz sicher.
Wie ging es weiter?
Es wird ein zweiter Test am Robert-KochInstitut gemacht. Das sind dann noch einmal 14 Tage, in denen man inständig hofft. Das ist eine ganz schreckliche Zeit. Als das Ergebnis bestätigt wurde, war ich wie in einem hypnotischen Zustand – eine ganze Woche. Mir ging es richtig schlecht. Dann bin ich zur Aids-Hilfe gegangen. Ich brauchte dringend jemandem, mit dem ich sprechen konnte. Ich hatte es zwar sofort meinem Mann erzählt, aber er wollte nichts davon hören und lehnte es ab, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Das hat mich maßlos enttäuscht.
Ihr Mann hat erst durch Sie von seiner eigenen Infektion erfahren. Wie hat er darauf reagiert? Er ist tatsächlich in Ohnmacht gefallen. Er hat es noch weniger geglaubt als ich. Zumindest wusste ich dann, dass er mich nicht mit Absicht infiziert hat. Das war damals noch wichtig für mich. In der Zeit danach behandelte er das Thema nach dem Motto »no problem«. Er sagte: Du willst immer nur über HIV reden – und dass ich hysterisch sei. Das konnte ich überhaupt nicht brauchen. Nach fünf Jahren habe ich gesagt: Schluss, jetzt trenne ich mich von ihm. Dann ging es auch ein bisschen besser, denn ich wurde durch eine Frauengruppe gestärkt.
Und bei der Arbeit?
Ich wollte unbedingt, dass es dort nicht rauskommt. Dann gab es einen Fernsehbeitrag, da spazierte ich vermummt mit Kapuze und Perücke an der Ostsee entlang. Die Redaktion hatte mir versprochen, dass der Ton verändert wird, aber das hat nicht funktioniert. Noch am selben Abend haben mich drei Leute angerufen und gesagt: Das warst du doch, das war deine Stimme!
So wünscht man es sich nicht …
Nee, überhaupt nicht. Ich habe als Entschädigung eine Fahrt nach Oslo bekommen ( lacht). Bei der Arbeit ist es dann so hintenrum gekreist. Ich habe gedacht: Gott nee, da wabert irgendwas. Dann habe ich den Angriff nach vorne gemacht und gesagt: Wenn ihr irgendwas dazu wissen wollt, könnt ihr gerne kommen.
Gab es auch negative Reaktionen – oder war die Angst vorher schlimmer?
Die Angst war schlimmer. Diese Angst, die hemmt alles. Man hat Vorstellungen, was alles passieren wird – und das tritt gar nicht ein. Heute sage ich auch anderen, dass es eine Erleichterung ist, sich zu outen, aber dass auch jeder seine Zeit dafür braucht. Eine Staatssekretärin im Kieler Landtag hat mal gesagt: Aids ist doch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Alles klar. Da ist die Politikerin weit weg von der Realität.
Wie sieht denn die Realität aus? Sind die Menschen heute aufgeklärter als vor 20 Jahren?
Es gibt junge Leute, die sind wesentlich aufgeklärter. Es gibt aber auch andere, die tragen die Klischees weiter. Beim CSD haben wir uns ein T-Shirt machen lassen, da stand drauf: »Mein HIV-Status? Frag mich doch einfach.« Ich habe damit gerechnet, dass Leute kommen. Aber sie trauten sich nicht. Das war traurig, denn wir haben uns wirklich alle Mühe gegeben. Wenn irgendjemand etwas wissen will, dann soll er mich einfach anrufen. Wie leben Sie im Alltag mit dem Virus? Es gibt ein paar Begleiterscheinungen durch die Tabletten, die sind nicht ganz ohne. Sie machen dem Magen zu schaffen. Ich habe außerdem Angst, dass ich sie vergesse. Aber das ist alles zu ertragen. Man braucht einen guten Arzt, mit dem man wirklich alles besprechen kann. Aber sonst lebe ich ganz normal, als wenn ich kein HIV hätte. Mein Arzt sagte mal: »Sie sterben nicht an Aids.«
Wer durch Medikamente unter die Nachweisgrenze kommt, ist nicht mehr ansteckend. Hat sich das herumgesprochen? Nee. Man muss es jedes Mal lang und breit erklären. Ich weiß aber auch nicht, wie man es anders machen könnte. Ich bin seit über zehn Jahren nicht mehr infektiös, weil ich gut behandelt werde. Trotzdem kommt es vor, dass Leute an Infotischen der Aids-Hilfe sagen: »Was, jetzt wollen die auch noch ohne Kondome rummachen? Das gibt es doch wohl nicht!« Aber sie wissen gar nichts über die Möglichkeiten, die man hat.
Welche Rolle spielt das in Ihrem Privatleben?
Das Privatleben hat sich altersmäßig entwickelt ( lacht). Ich bin jetzt nicht mehr so heiß auf Sex, aber nicht wegen HIV. Mein aktueller Partner und ich sind anfangs zusammen zum Arzt gegangen. Der hat uns alles erklärt und mir die Angst genommen. Mein Partner hatte keine Angst. Wir haben trotzdem Kondome benutzt – als Sicherheit für mich. Ich wollte nicht so richtig glauben, dass ich nicht ansteckbar bin. Man ist so in diesem Stigma drin und kann sich ganz schwer daraus befreien. Inzwischen gehen wir ganz locker damit um.
Was sollte sich im Umgang mit HIV und Aids ändern?
Patientengespräche mit Menschen mit HIV sollten im Medizinstudium verankert werden. Man hört vom Personal in Kliniken ganz schreckliche Sachen. Dass einer über den Flur schreit: »Sie wissen schon, dass Sie Ihre Aids-Binde im Aids-Eimer entsorgen müssen!«
Sie sagen, der gesellschaftliche Fortschritt halte sich in Grenzen. Was ist mit der Medizin?
Wir haben jetzt Medikamente mit nicht mehr so viele Nebenwirkungen, die trotzdem sehr wirksam sind. Außerdem kann man sich heute mit einer Tablette vor einer Ansteckung schützen. Diese sogenannte PrEP verhindert, dass das Virus andocken kann. Das ist, wenn man ein paar Jahre zurückdenkt, ein Riesenfortschritt.