Martin Koch Das permanente Sinken des Intelligenzquotienten
Seit Jahren sinken die Intelligenzquotienten, so das Ergebnis der einschlägigen IQ-Tests. Die Ursachen dieses Phänomens sind unter Wissenschaftlern umstritten.
Im Jahr 1984 machte der neuseeländische Politologe James Flynn eine verblüffende Entdeckung: Der Intelligenzquotient (IQ) der US-Amerikaner war zwischen 1932 und 1978, also in nur zwei Generationen, im Schnitt um 14 Punkte gestiegen. In der Folge dehnte Flynn seine Untersuchungen auf 13 weitere Industrieländer aus, zu denen neben Frankreich, Großbritannien und Japan auch die beiden deutschen Staaten gehörten. Im Fall der DDR stützte er sich dabei auf Daten aus Leipzig, die vom dortigen Zentralinstitut für Jugendforschung erhoben worden waren. Danach hatte sich der IQ der getesteten DDR-Schüler zwischen 1968 und 1978 um 10 bis 15 Punkte erhöht. Nach Auswertung sämtlicher Daten kam Flynn zu dem Schluss, dass man für die vergangenen Jahrzehnte von einem Zuwachs des IQ zwischen 5 und 25 Punkten pro Generation ausgehen könne.
Auch in späteren Untersuchungen wurde der sogenannte Flynn-Effekt bestätigt, die Tatsache also, dass ein durchschnittlicher Testteilnehmer im Jahr 1984 und danach weitaus mehr Aufgaben eines Intelligenztests zu lösen vermochte als ein Testteilnehmer etwa in den 50er Jahren. Folglich mussten die Tests im Laufe der Zeit immer schwieriger gemacht bzw. neu normiert werden, um den Mittelwert von 100 wieder herzustellen. Denn die Häufigkeitsverteilung des IQ in der Gesamtbevölkerung entspricht einer Normalverteilung bzw. einer Gaußschen Glockenkurve, die beim Wert 100 ihre Spitze hat.
Nun ist der IQ bekanntlich ein zu grobes Maß, um ein so vielschichtiges Phänomen wie die Intelligenz vollständig erfassen zu können. Normalerweise werden in IQ-Tests vor allem die sprachlichen, räumlichen und logischen Fähigkeiten eines Menschen gemessen. Außerdem ähnelt die Prozedur einer schulischen Leistungskontrolle, bei der die Antworten ebenfalls häufig standardisiert vorgegeben sind. Zur Bewältigung bedarf es keiner sonderlichen Kreativität, deren produktive Kraft gerade darin liegt, von anerkannten Lösungswegen abzuweichen. Dennoch wurde der Flynn-Effekt mitunter als Beleg dafür angesehen, dass die Menschen mit der Zeit immer intelligenter würden.
Auch wer einen solchen Schluss zu Recht für absurd hält, wird sich fragen müssen, woraus der von Flynn registrierte Anstieg der IQ-Testleistungen tatsächlich resultiert. Genetische Veränderungen scheiden als Ursache aus, denn diese benötigen gewöhnlich längere Zeiträume, um wirksam werden zu können. Es bleiben mithin nur Umweltfaktoren wie zum Beispiel eine ausreichende Ernährung und Verbesserungen im Bildungssystem. Für diese Annahme spricht, dass der IQ in Europa vor und nach dem Zweiten Weltkrieg merklich schneller wuchs als während des Krieges, als die Ernährung mangelhaft war und die Schulbildung oft unregelmäßig erfolgte. Nach einer unlängst publizierten Metaanalyse, die sich auf die Untersuchung von über 600 000 Schülerinnen und Schüler stützt, erhöht ein zusätzliches Schuljahr den IQ um 1 bis 5 Punkte. Auch in der DDR war die Steigerung des IQ-Durchschnitts maßgeblich an die Verlängerung der allgemeinen Schulzeit von acht auf zehn Jahren geknüpft.
Zweifellos spielen die genannten Umweltfaktoren – zu denen auch eine gute medizinische Versorgung gehört – eine wichtige Rolle für die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Doch es kommt vermutlich noch etwas hinzu: Wenn eine Gesellschaft bestimmter kognitiver Fähigkeiten bedarf und sie entsprechend belohnt, werden sich immer mehr Menschen dieser Fähigkeiten bedienen. Schon vor Jahren führte der US-Psychologe Ulric Neisser den IQ-Anstieg auf die Tatsache zurück, dass die heranwachsenden Generationen im 20. Jahrhundert häufiger und eher mit Bildern, Mustern und Figuren konfrontiert wurden als ihre Eltern: im Kino, in Comics, der Werbung, im Fernsehen, am Computer. Auch den sogenannten Zauberwürfel könnte man als Trainingsobjekt für die Entschlüsselung visueller Codes und Muster anführen. Kinder werden dadurch frühzeitig auf die Lösung räumlicher und logischer Aufgaben vorbereitet, die in IQ-Tests eine wichtige Rolle spielen und bei denen man tatsächlich die stärksten IQ-Zuwächse registriert hat. Bei Testaufgaben, die das in der Schule erlernte »kristalline Wissen« zum Gegenstand hatten, waren die gemessenen Steigerungen geringer.
Lange sah es so aus, als würde sich der Flynn-Effekt – wenn auch in abgeschwächter Form – permanent fortsetzen. Mittlerweile ist jedoch das Gegenteil eingetreten. Seit der Jahrtausendwende wurde in mehreren Studien über eine Abnahme der IQ-Testleistungen zwischen 2 und 8 Punkten pro Jahrzehnt berichtet – zuerst in Skandinavien, später auch in anderen Ländern Europas, darunter Österreich, Frankreich, Großbritannien und Estland. In weniger entwickelten Ländern hält der Flynn-Effekt dagegen an.
Manche Forscher sehen im IQ-Rückgang ihre ideologischen Vorurteile bestätigt. So wird etwa behauptet, dass der negative Flynn-Effekt auf eine dysgenische Entwicklung zurückgehe, sprich auf die Verbreitung von »schlechten« Genen durch die zunehmende Migration von Menschen aus bildungsfernen Schichten. Dieser bereits von Thilo Sarrazin strapazierten Auffassung liegt die vielfach widerlegte These zugrunde, dass die Intelligenz eines Menschen in erster Linie von seinen Genen bestimmt werde. In Norwegen waren Forscher in der glücklichen Lage, die IQ-Testleistungen von über 700 000 Wehrpflichtigen seit den 1960er Jahren miteinander vergleichen zu können. Dabei stellten sie fest, dass sich der Anstieg ebenso wie später der Abfall des IQ über Generationen auch bei Geschwistern, also innerhalb von Familien vollzog. Das heißt, die IQ-Veränderungen spielten sich mehr oder weniger vor dem gleichen genetischen Hintergrund ab.
Das legt den Schluss nahe, dass auch der negative Flynn-Effekt auf Einflüsse der Umwelt zurückgeht. »Irgendwann sind die Menschen einer Gesellschaft gut ernährt, medizinisch versorgt und haben ausreichend Jahre an Bildung genossen«, sagt Jens Asendorpf, ehemaliger Direktor des Instituts für Psychologie an der Humboldt-Universität, und vergleicht die IQ-Entwicklung mit jener der Körpergröße, die nach einem kontinuierlichen Anstieg in den letzten Jahrzehnten ebenfalls stagniert. Die an der ETH Zürich lehrende Intelligenzforscherin Elsbeth Stern pflichtet dem bei: »In den westlichen Ländern haben sich die Umweltbedingungen so verbessert, die Medizin, die Schulbildung und auch außerschulische Lerngelegenheiten, dass die Menschen immer mehr Möglichkeiten hatten, die in ihren Genen vorgesehene Intelligenz auch zu entfalten. Und da hat man jetzt so den Höhepunkt erreicht.«
Einen Grund, die Entwicklung zu dramatisieren, gibt es mithin nicht. So wenig wie der Flynn-Effekt einst ein goldenes Zeitalter der Intelligenz ankündigte, so wenig lässt sich aus seiner Umkehr ableiten, dass die Menschheit nun zunehmend verdumme. Denn es sind immer nur Teilbereiche der Intelligenz, in denen Frauen und Männer bessere bzw. schlechtere Testergebnisse erbringen.
Eine interessante Entdeckung hierzu machte eine Forschergruppe um Robin Morris vom Londoner King’s College. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass sich die IQTestresultate vor allem dann verschlechterten, wenn dabei das Arbeitsgedächtnis der Teilnehmer gefordert war. Das Arbeitsgedächtnis ist komplexer als das Kurzzeitgedächtnis und befähigt Menschen, Informati- onen vorübergehend zu speichern und zu manipulieren. Es wird zum Beispiel benötigt, um Sätze inhaltlich zu verstehen oder Handlungen zu planen.
Neueren Untersuchungen zufolge lässt das Arbeitsgedächtnis mit dem Alter nach. Genau hier vermutet Morris den Schlüssel zum Verständnis des negativen Flynn-Effekts. Denn in den letzten Jahrzehnten absolvierten immer mehr Menschen einen IQ-Test, die älter waren als 60 Jahre. Dadurch könnte sich der IQ im Schnitt leicht nach unten bewegt haben.
Obwohl es an plausibel klingenden Erklärungen für den negativen Flynn-Effekt nicht mangelt, bleibt Vorsicht geboten. Im Gegensatz zu der erwähnten Studie aus Norwegen sind andere untersuchte Stichproben eher klein und damit nur bedingt aussagekräftig. Gleichwohl hält der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer die gemessenen Rückgänge des IQ schon jetzt für bedenklich. Scheinen sie doch seine fragwürdige These zu bestätigen, dass der inflationäre Umgang mit digitalen Medien Kinder und Jugendliche in ihren kognitiven Möglichkeiten einschränke. Zum Beleg führt Spitzer an, dass der negative Flynn-Effekt mit rund acht Verlustpunkten pro Jahrzehnt in Estland am stärksten ausgeprägt ist – in einem Land also, das bei der Digitalisierung des Alltags zu den führenden der Welt gehört. Andererseits trainiert der Umgang mit digitalen Medien Jugendliche gerade auf Gebieten, auf denen man im IQ-Test viele Punkte erzielen kann. Mit einem Wort: Der negative Flynn-Effekt dürfte Forschern auch weiterhin genügend Stoff zum Nachdenken und Mutmaßen bieten.