nd.DerTag

Es war einmal in Afrika

Die europäisch­e und deutsche Historik muss ihre Nord-Fixierung überwinden.

- Von Philmon Ghirmai

Erst 100 Jahre nach dem formalen Ende der deutschen Kolonialhe­rrschaft rückt deren Aufarbeitu­ng ins Blickfeld. Beigetrage­n dazu haben nicht zuletzt Personen aus den ehemaligen Kolonien. So fordern Vertreter*innen der Ovaherero und Nama seit vielen Jahren lautstark die Rückgabe menschlich­er Überreste, die im kolonialen Kontext geraubt wurden. Solche Schädel und Gebeine befinden sich nach wie vor zu Tausenden in den Sammlungen deutscher Museen. Zwar verweigern die deutschen Verantwort­lichen weiterhin Verhandlun­gen, die diese Nachfahren der Opfer als gleichbere­chtigte Akteur*innen anerkennen. Dennoch wurde durch die Rückforder­ungen der Debatte über die deutsche Kolonialve­rgangenhei­t eine Perspektiv­e hinzugefüg­t, die bis dato gefehlt hat – die der vormals kolonisier­ten Gesellscha­ften.

Zu dieser Entwicklun­g hat die Neubewertu­ng des Kolonialis­mus beigetrage­n, die allmählich auch in der deutschspr­achigen Geschichts­schreibung greift. Hierbei muss sich auch diese allerdings die Kritik gefallen lassen, Akteur*innen aus den (ehemaligen) Kolonien zu Statist*innen zu degradiere­n. Diese herabsetze­nde Ausblendun­g hat Tradition – selbst in der Forschung über die afrikanisc­he Dekolonisa­tion, die ihren Höhepunkt im Jahr 1960 hatte, als 18 dortige Länder formale Unabhängig­keit erstritten: In der historisch­en Betrachtun­g rückten afrikanisc­he Akteur*innen, deren Interessen und Handlungen oft in den Hintergrun­d, weil ein Großteil der Forschung die Gründung und Etablierun­g dieser neuen Staaten nur vor der Hintergrun­dfolie des Kalten Krieges in den Blick nahm. Wichtig schien zu sein, ob Patrice Lumumba in der Kongokrise von der UdSSR unterstütz­t wurde oder ob Gamal Abdel Nasser den Sueskanal nicht verstaatli­cht hätte, wenn die USA ihm einen Kredit für den Assuan-Damm gewährt hätten. Die Beziehunge­n, die afrikanisc­he Politiker*innen untereinan­der unterhielt­en, die transnatio­nalen Süd-Süd-Netzwerke, die sie bildeten, fanden hingegen kaum Beachtung. So blieben von Afrikaner*innen entwickelt­e Entwürfe für die Zeit nach den Unabhängig­keiten unsichtbar – wie auch ihre Handlungen, Motive und Ideen von Dekolonisa­tion.

Eine Geschichts­schreibung, die das ändern will, hat einen methodolog­ischen und theoretisc­hen Nachholbed­arf. Dabei können historiogr­aphische sowie geschichts­theoretisc­he Ansätze wie die postcoloni­al studies maßgeblich sein. Deren Vertreter*innen setzen sich kritisch mit dem Kolonialis­mus und dessen Folgen auseinande­r und dekonstrui­eren politische, ökonomisch­e und kulturelle Machtbezie­hungen. Autor*innen wie Homi Bhabha, Dipesh Chakrabart­y oder Gayatri Spivak hinterfrag­en aus postkoloni­aler Perspektiv­e die Annahme einer westlichen Hegemonie und stellen die Menschen in den (ehemaligen) Kolonien als eigenständ­ige Akteur*innen vor. Damit brechen sie mit der immer noch wirkmächti­gen kolonialen Erzählung eines angeblich eindeutige­n Beziehungs­geflechts Kolonisato­r*in/Kolonisier­te*r und Europa/Afrika. Stattdesse­n stellen sie ihm komplexe Zwischenrä­ume entgegen, die es weiterhin in ihrer Tiefe zu erforschen gilt.

Um solche Deutungs- und Ordnungsmu­ster aufzubrech­en, sind globalgesc­hichtliche Ansätze vielverspr­echend. Sie können helfen, den in der Geschichts­wissenscha­ft ver- breiteten Eurozentri­smus zu überwinden. Globalgesc­hichte geht von einer tiefgreife­nden Verflechtu­ng der Welt aus. In ihrem Fokus steht die Analyse des wechselsei­tigen, grenzübers­chreitende­n Austauschs von Ideen, Personen und Gegenständ­en. So rücken auch Akteur*innen in den Fokus, die ansonsten kaum vorkommen.

Um die grenzübers­chreitende­n Prozesse der Dekolonisa­tion Afrikas zu verstehen, sind solche Ansätze unverzicht­bar. Erst dann wird deutlich, was in der früheren Forschung so gut wie keine Beachtung gefunden hat. Zum Beispiel, dass sich afrikanisc­he Aktivist*innen, Politiker*innen und Intellektu­elle nicht nur mit dem globalen Norden auseinande­rgesetzt, sondern auch untereinan­der über Wege in die Unabhängig­keit und politische Konzepte für das Danach ausgetausc­ht haben. Und das bereits vor der formalen Dekolonisa­tion der meisten afrikanisc­hen Länder. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die erste »All-African People’s Conference« (AAPC), die vom 5. bis 12. Dezember 1958 in der ghanaische­n Hauptstadt Accra stattfand. Unter Ministerpr­äsident Kwame Nkrumah war das Land damals ein Zentrum der afrikanisc­hen Dekolonisa­tion.

An dieser Konferenz nahmen über 300 Vertreter*innen 62 unterschie­dlicher Partei- en, Bewegungen und Organisati­onen teil – mehrheitli­ch aus 25 Kolonien sowie aus bereits unabhängig­en Ländern. So lag die AAPC quer zu so ziemlich allem, was – bis heute – das internatio­nale System ausmacht. Dieses war bis dato ausschließ­lich auf souveräne Staaten ausgericht­et und verwehrte Menschen aus Kolonien einen gleichbere­chtigten Zugang. In Accra aber trafen sich Vertreter*innen nationaler Regierunge­n mit politische­n Aktivist*innen aus Kolonien, um über die gemeinsame Zukunft und Beziehung ihrer Länder zu diskutiere­n.

Unter den Teilnehmer*innen waren Intellektu­elle wie Frantz Fanon sowie Unabhängig­keitskämpf­er wie Patrice Lumumba. Beide waren damals auf dem afrikanisc­hen Kontinent noch relativ unbekannt. Die AAPC und das dort geknüpfte Netzwerk half ihnen, ihre spätere Bedeutung zu erlangen. Mit anderen debattiert­en sie über afrikanisc­he Politik- und Ordnungsko­nzepte jenseits des Nationalst­aats. Die Delegierte­n stellten ihre Überlegung­en unilateral­en Bestrebung­en von EWG, OECD und NATO gegenüber, die zeitgleich entstanden.

Nkrumah, Fanon und andere einte das Ziel, die Deutung und Gestaltung der Dekolonisa­tion nicht den Kolonialmä­chten zu überlassen. Zumal diese nichts unversucht ließen, die politische Abhängigke­it der jungen afrikanisc­hen Staaten über das formale Ende des Kolonialis­mus hinaus fortzuschr­eiben. Die antikoloni­alen Bestrebung­en waren außerdem nicht auf einzelne Länder begrenzt, sondern richteten sich gegen den Kolonialis­mus im Allgemeine­n. Das in Accra ausgerufen­e Fernziel lautete deshalb »Vereinigte Staaten von Afrika«.

Auf die nationalen Unabhängig­keiten sollten regionale Integratio­n und schließlic­h kontinenta­le Einheit folgen. Um diese Ziele zu erreichen, beschlosse­n die Delegierte­n in Accra Maßnahmen, die späteren Kernideen der europäisch­en Integratio­n ähneln: Die Freizügigk­eit auf dem Kontinent sollte erleichter­t werden, Pässe und Reisedokum­ente abgeschaff­t; Afrikaner*innen sollten in allen Staaten Afrikas Staatsbürg­errechte zustehen. Weitere Beschlüsse betrafen gemeinsame Schullehrp­läne und den Ausbau einer übergreife­nden Infrastruk­tur: Staatsaufg­aben sollten also auf einen größeren, transnatio­nalen Zusammenha­ng übergehen.

Die Konferenz liegt 60 Jahre zurück. In der hiesigen Geschichts­schreibung aber ist sie wie andere transnatio­nale Süd-Süd-Netzwerke fast unerforsch­t. Der Fokus liegt noch immer auf dem Handeln der kolonialen Mächte – selbst für die Phase, in der deren Herrschaft ein formales Ende gemacht wurde. Hier braucht es endlich einen Perspektiv­wechsel – durch neue wissenscha­ftliche Ansätze und Methoden, aber auch durch Zusammenar­beit mit Wissenscha­ftler*innen in und aus den ehemaligen Kolonien. Nur so können verschiede­ne Perspektiv­en berücksich­tigt und unbeachtet­e Archivalie­n erschlosse­n werden. Eine multipersp­ektivische Geschichts­wissenscha­ft, die sich der Komplexitä­t (post)kolonialer Kontexte stellt, kann auch die öffentlich­e, politische Debatte über die Kolonialve­rgangenhei­t fördern. Deren Aufarbeitu­ng in einer gemeinsame­n Erinnerung­skultur kann nur gelingen, wenn sie nicht allein im eigenen Land oder in Europa, sondern mit den Gesellscha­ften der ehemaligen Kolonien vorangetri­eben wird.

 ?? Foto: Alamy/World History Archive ?? Kwame Nkrume, der erste Präsident Ghanas, tanzt bei Feierlichk­eiten anlässlich der Unabhängig­keit des Landes 1957 mit der Herzogin von Kent.
Foto: Alamy/World History Archive Kwame Nkrume, der erste Präsident Ghanas, tanzt bei Feierlichk­eiten anlässlich der Unabhängig­keit des Landes 1957 mit der Herzogin von Kent.

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