Arien zu Celluloid
Außer Kontrolle: An der Oper Erfurt stellt Steve Reich mit »Three Tales« Grundsatzfragen
Eine Video-Oper am Theater Erfurt inszeniert die Katastrophe.
Wichtige Fragen stellen, ohne die Antwort gleich mitzuliefern. Mit einer Musik, die packt und einer Visualisierung, die die Grenzen des Genres sprengt. Musiktheater mit Nach(denk)wirkungen – und das ohne eine Inszenierung im klassischen Sinne.
Die Rede ist von Steve Reichs Video-Oper. »Three Tales« – ein etwas über einstündiges, zu den Wiener Festwochen vor 17 Jahre uraufgeführtes Werk – kam jetzt auf der Studiobühne des Erfurter Opernhauses als Bereicherung des »normalen« Repertoirebetriebes eines Stadttheaters. In Erfurt passt das gut in die Affinität zu musikalischen Novitäten. Hier hat Guy Montavon Uraufführungen und Ausgrabungen zum Markenzeichen seines Hauses und seiner Generalintendanz gemacht.
Nun ist der Einsatz von Videos in Operninszenierungen aber heute generell groß in Mode. Entweder als Ersatz und Ergänzung eines Bühnenbildes – oder als eigenständige zusätzliche Ebene eines Gesamtkunstwerkes, bei dem die Produktion der filmischen Abbildung selbst zur Kunstanstrengung gehört. Frank Castorf hat diese Methode auch auf der Opernbühne bis zur Meisterschaft getrieben. Eine Video-Oper setzt da aber noch mal eins drauf: Man braucht weder Regisseur, noch Bühnen- und Kostümbildner. Würde man das ganze »Konzert mit Film« nennen, wäre das auch treffend. Ließe sich aber schlechter vermarkten.
Komponiert hat die drei Geschichten (daher auch der Titel »Three Tales«) Steve Reich. Der 82-Jährige zählt neben Phil Glass, dessen Oper »Waiting for the Barbarians« 2005 in Erfurt uraufgeführt wurde, zu den wichtigsten Vertretern der Minimal Music. Die Videos, die szenisch um drei reale beziehungsweise potenzi- elle Katastrophen des 20. Jahrhunderts kreisen, stammen von der Videokünstlerin Beryl Korot, Reichs Ehefrau. Ausgangspunkt für die Filmcollagen sind mediale Schlüsselbilder, die sich wie ein Synonym für Katastrophe ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.
Es geht um das Flammeninferno beim Absturz des Zeppelins »Hindenburg« im Jahr 1937. Weniger die 35 Todesopfer als diese Bilder waren das Aus für diese Variante der Luftfahrt. Bei den Atombombentests der USA über dem südpazifischen Bikini-Atoll von 1946 bis 1952 sind es die Naivität der Beobachter und der Zynismus bei der Umsiedlung der Bewohner, die auch heute noch beeindrucken. Schließlich blökt das Klon-Schaf Dolly in die Kamera. Dieses Schaf und ein »sympathisch« gestylter Android stehen eher für die potenziellen Gefahren von Sprüngen in der technologi- schen Entwicklung, die vor allem entfesselt werden, weil es möglich ist.
Das Gefahrenpotenzial von Genmanipulation und sogenannter künstlicher Intelligenz beginnt in den Diskursen zwar gerade erst aufzudämmern. Da dem Schaf oder dem drollige Roboter die exemplarischen Katastrophenbilder vorgelagert sind, erscheinen diese in einem ganz anderen Licht – haben nichts mehr von einer Attraktion auf einer Landwirt- schaftsschau oder von einem MesseGag, der seine Schöpfer nachzuahmen hat.
Zu den collagierten Bildern kommen kurze Kommentare von Wissenschaftlern. Zusammen mit Reichs pulsierender Musik entfalten die Bilder einen ganz eigenen Gedankensog, der sich um eine zentrale Frage dreht: Welche Konsequenzen kann menschliches Handeln haben, wenn die Mittel, die entwickelt werden, außer Kontrolle geraten?
Die Herausforderung bei der Realisierung von »Three Tales« liegt in der Kombination der Videosequenzen mit der genau getakteten live produzierten Musik und den Sängern, die Kapellmeister Peter Leipold mit den Erfurter Philharmonikern im Kammerorchesterformat, hier mit Knopf im Ohr, zu vollbringen hat. Ein Streichquartett, das von Schlagwerk und zwei Klavieren und fünf Gesangssolisten – Tobias Schäfer, Andreas Karasiak, Paul Sutton, Leonor Amaral, Marisca Mulder – verstärkt ist, liefert die Ton- zur Filmspur.
Dass das musiktheatrale Nachdenken über die Risiken und Nebenwirkungen von Fortschritt durch die Reduktion der Szene auf einen reproduzierbaren Film und die Dominanz der Technik das Musiktheater als Gesamtkunstwerk durch seine Form selbst in Frage stellt, fährt einem dann freilich als dialektische Pointe wie ein Schreck in die Glieder.
Würde man das ganze »Konzert mit Film« nennen, wäre das auch treffend. Ließe sich aber schlechter vermarkten.
Nächste Aufführungen am 9. und 23. Februar am Theater Erfurt.