Mit dabei – am Himmel wie auf der Erde
Eurofighter in Estland, Panzer in Litauen – der NATO reicht nicht, was die Bundeswehr im Osten treibt
Die Auseinandersetzungen zwischen der NATO und Russland werden schärfer. Nun ist auch der INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen gekündigt. Hat dies Auswirkungen auf die vorgeschobenen Stellungen der Bundeswehr im Osten Europas? Fotografieren ist Pflicht, wenn man russischen »Luftraumpartnern« begegnet.
Zu Wochenbeginn reiste Verteidigungsministerin von der Leyen an eine Art Ostfront – zur Bundeswehr in den vorderen NATO-Stellungen im Baltikum. Auch, um deutsches Engagement zu demonstrieren.
Hannes »Sowieso« ist ein absolut freundlicher Typ, Hauptmann der Bundeswehr und Pilot eines »Eurofighters«. Gerade ist er von einem Einsatz zurückgekommen. Gemeinsam mit seinem Rottenkameraden hat er ein »Ziel« abgefangen und es – wie es sich für ein Begrüßungskomitee gehört – hautnah, doch respektvoll bis zur Landung eskortiert. An Bord des »Ziels« war Ursula von der Leyen mit ihrem Tross. Die deutsche Verteidigungsministerin hatte sich zur estnischen Leenubaas Air Base nahe der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad aufgemacht. Dort bei der kleinen Stadt Ämari ist ein deutsches Luftwaffenkontingent stationiert. Im Auftrag der NATO. Zum elften Mal. Als »Verstärkung Air Policing Baltikum«.
Seit August vergangenen Jahres sind 160 deutsche Soldaten mit fünf »Eurofigher«-Jagdflugzeugen im weiten Nichts – seit ein paar Tagen schaut es dort aus, als gebe es Schnee im Ausverkauf. Im geheizten Hangar lässt es sich aber aushalten. Hannes »Sowieso« ist dort als Einsatzstabsoffizier verantwortlich. Er kümmert sich um Flugpläne, koordiniert Aktuelles mit den Zuständigen in den NATO-Einsatzzentren Uedem und Kalkar. Beides liegt in Nordrhein-Westfalen.
Dass er den ministeriell beladenen A400M-Militärtransporter in Empfang nahm, lag daran, dass er für die aktuelle Alarmrotte eingeteilt war. Jeweils zwei Piloten – samt fünf Technikern – sind 24 Stunden unmittelbar neben ihren Jets in Bereitschaft. Innerhalb von 15 Minuten können die aufsteigen, falls sich ein vom Boden aus nicht identifizierbares Flugzeug der estnischen Grenze nähert. Was kaum zu vermeiden ist, denn zwischen Estland und Finnland gibt es nur einen 20 Kilometer breiten internationalen Luftkorridor.
Hier muss alles durch, auch die russischen Militärmaschinen, die vom Mutterland zur Enklave Kaliningrad oder umgekehrt fliegen. Das Problem: Deren Piloten schalten nur selten den Transponder ein, mit dessen Hilfe Fluglotsen erkennen können, welche Maschine mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Höhe wohin unterwegs ist. Das, so sagen die Deutschen, sei bei ihnen anders. Die Transponder ihrer »Eurofighter« lieferten jederzeit alle notwendigen Informationen.
Normalerweise kümmert sich jeder NATO-Staat selbst um solche ganz normalen luftpolizeilichen Einsätze. Doch da die baltischen Allianzmitglieder über keine oder keine nennenswerte Luftwaffe verfügen, erledigen das seit 2004 andere Alliierte im Rotationsverfahren.
Folgt man estnischen Militärs, so wird die russische Luftwaffe immer aktiver in dieser Region. 2014 habe es insgesamt 138 »Alpha-Scrambles«, also echte Alarmstarts, gegeben. Ein Jahr später schon 153. Von Anfang 2018 bis zur Übernahme der deutschen Verantwortung addierten die Esten in Ämari 85 Alarmierungen. Doch der deutsche Kontingentführer, Oberstleutnant Gordon Schnitger, hält den »Ball flach«. In seiner am 31. August eröffneten Statistik liest man 30 »Alphas« und 300 reine Übungsmissionen. Provokationen, wie zu Zeiten des ersten Kalten Krieges an der Trennlinie zwischen beiden Militärblöcken üblich, bleiben bislang aus. Zu keinem Zeitpunkt geriet man in kritische Situationen, weil die Kollegen von der anderen Seite das gewollt hätten. Auch Hauptmann »Sowieso« berichtet, alles sei hier kaum anders als daheim in Wittmund, wo sein Richthofen-Geschwander üblicherweise stationiert ist. Nur hat man hier ein paar Raketen mehr an Bord. »Nur zur Selbstverteidigung«, sagt der junge Pilot. Auch er hält die meisten der kolportierten Geschichten darüber, wie russische Militärs NATOPiloten provozieren, für nicht seriös. »Die fliegen ebenso professionell und besonnen wie wir.« Und gerade relativ selten. Man habe gespürt, »dass die Kollegen gerne Weihnachten feiern«. Das in Russland zelebrierte orthodoxe Fest ist am 6. Januar. Und wenn das Wetter – wie dieser Tage – nicht freundlich ist, bleiben beide Seiten lieber am Boden. Seit Januar mussten die deutschen Jets so nur zweimal zu echten Missionen aufsteigen. Er konnte daher leider noch kein Foto fürs NATO-Aufklärungsalbum »schießen«, sagt Hannes.
Fotografieren ist Pflicht, wenn man russischen »Luftraumpartnern« begegnet. Die Deutschen haben eigens Digitalkameras auf der rechten Seite der »Eurofighter«-Cockpits installiert. In jeder Fliegerkombi steckt ei- ne zusätzliche Handkamera, denn man will keine Nummer, kein Geschwaderzeichen, keine neue Antenne, keinen zusätzlichen Sensor der russischen MiGs, Suchojs, Iljuschins, Tupolews und Antonows undokumentiert lassen. Und deren Piloten sind fotografisch nicht minder aktiv, was die NATO-Typen betrifft.
Wer etwas mehr über die Aufklärungsarbeit der Bundeswehr erfahren will und daher nach den Aufgaben jene Cybersoldaten fragt, die noch näher an der Grenze zu Russland in den estnischen Wäldern stecken, fragt vergebens. Es wird nicht dementiert, dass dort Teile des 912er Bataillons aus Nienburg stationiert sind, denn ab und zu, so Kontingentführer Schnitger, bekomme man Hinweise, wenn »auf der anderen Seite verstärkte Aktivitäten« wahrgenommen würden. Direkte Übungen der Ämari-Luftpolizisten mit den getarnten Experten der elektronischen Kampfführung gibt es nicht. Die Luftwaffe übt statt dessen mit Schweden und Finnen. Die sind zwar offiziell nicht Mitglieder der NATO, doch ihre Nähe zum westlichen Bündnis ist deutlich. Auch für die AWACS-Fernaufklärer, die hier regelmäßig auftauchen, um tief in den russischen Luftraum hineinzublicken, sind die »Eurofighter« Trainingspartner. Und bei Übungen der in Litauen stationierten NATO-Truppen mit ihren einheimischen Verbündeten flog man auch schon Luft-Boden-Einsätze.
Seit zwei Jahren führt Deutschland in Litauen ein verstärktes multinationales Bataillon im Rahmen der »NATO enhanced Forward Presence«, der 2016 beschlossenen »Vornepräsenz« der NATO. Mit dabei sind Soldaten aus Belgien, der Tschechischen Republik, Islands, der Niederlande und aus Norwegen. Zusammen mit vergleichbaren Einheiten in Estland, Lettland und Polen sollen sie den östlichen Bündnismitgliedern Rückhalt bieten, um »den Russen« von unbedachten Handlungen abzuhalten. Das funktioniert auch. Die noch vor zwei Jahren spürbare militärpolitische Aufgeregtheit ist zumindest im litauischen Rukla nicht mehr zu spüren.
Seit Beginn dieser Woche hat die hier stationierte und von der Bundeswehr geführte NATO-Battlegroup einen neuen Kommandeur. Oberstleutnant Peer Papenbroock, Chef des Panzerbataillons 104 aus dem Bayerischen Pfreimd, übernahm die Aufgabe von Oberstleutnant René Braun, der sonst ein Panzerbataillon im thüringischen Bad Frankenhausen führt.
Beide Offiziere wurden während der Zeit des ersten Kalten Krieges in der DDR geboren. Die meisten ihrer Untergebenen, die zur Kommandoübergabe auf dem Appellplatz angetreten waren, kennen diese Zeit der
militärisch auf die Spitze getriebenen politischen Spannung nicht einmal aus den Geschichtsbüchern. Wie sollen sie da Signale, die unter anderem durch die Kündigung des INF-Vertrages für Schlagzeilen sorgen, in ihrer möglichen Tiefe deuten können?
Das freilich kann Dalia Grybauskaitė. Sie hat in Leningrad Ökonomie studiert, später an der litauischen KPdSU-Parteihochschule gelehrt und an der Akademie der Wissenschaften in Vilnius gearbeitet. Später wurde sie EU-Kommissarin, jetzt ist sie Präsidentin Litauens. Grybauskaitė ist gewiss nicht zur Kommandoübergabe gekommen, weil sie keinen anderen Amtsgeschäften hätte nachgehen können. Sie suchte das Gespräch mit von der Leyen. Auch um zu erfahren, wie stabil das deutsche Sicherheitsversprechen ist. Ein Grund zu Nachfrage ist der wieder aufgeflammte Streit über die Höhe der Militärausgaben. Die NATO fordert auf »Anregung« der USA, Deutschland möge sich zügigst auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zubewegen. 1,5 Prozent hat Berlin bis 2024 pauschal zugesichert und dabei klar gemacht, nicht alles »cash« auf den NATO-Tisch zu legen. Es geht auch um die Erweiterungen von Einsatzfähigkeiten, die – wie die Entsendung von 1200 Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan oder die Stationierung von 500 weiteren in Litauen – nicht in Prozenten zu messen sind.
Doch die NATO ist – auch angesichts der nur ungefähren Daten im deutschen Teil des aktuellen sogenannten »Strategic Level Reports« – skeptisch. Man weiß: Die Jahre fetter Steuereinnahmen sind zu Ende. Der deutsche Finanzminister hat für 2023 ein Defizit in Höhe von 25 Milliarden Euro ausgemacht.
In Litauen jedenfalls versprach von der Leyen, den Ausbau der Kaserne in Rukla und des dortigen Übungsgebietes bis 2021 mit 110 Millionen Euro zu fördern. Und »so lange zu bleiben, wie wir gebraucht werden«.