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Nostalgie, du bist so schön!

Ein nachgelass­enes Buch von Zygmunt Baumann über Retrotopia

- Von Björn Hayer

Jede Zeit hat ihr Gefühl. Nach dem freudentru­nkenen Aufbruchsf­eeling der Moderne, die infolge zweier Weltkriege­n notwendige­rweise in eine Katerstimm­ung übergehen musste, stehen Utopien derzeit nicht gerade hoch im Kurs. Im Gegenteil: Statt auf eine bessere Zukunft zu hoffen, sind wir in der Epoche der Nostalgie angelangt. Zu diesem Befund kam der 2017 verstorben­e Denker Zygmunt Baumann, dessen letztes Werk mit dem vielsagend­en Titel »Retrotopia« posthum erschien.

An jenem Ort gehen die Uhren rückwärts, deren Zeiger weisen auf eine vermeintli­ch schöne und sichere Idylle. Neben der Verklärung­en der Vergangenh­eit nähren ebenso Abstiegs- und Verlustäng­ste den Mythos von der guten, alten Zeit. Vor allem in der Globalisie­rung und dem rasanten technische Fortschrit­t sieht der Autor die Gründe für den Rollback. Da die Folgen dieser Entwicklun­gen nicht gesellscha­ftlich abgefangen werden, ja, die Politik den entfesselt­en ökonomisch­en Kräften verzweifel­t hinterhere­ilt, haben sich in den letzten Jahren die Lasten auf die Schultern des Einzelnen verlagert. Verpackt wird das neoliberal­e Programm in Lobgesänge­n auf einen schick klingenden Individual­ismus, der aus Baumanns Sicht jedoch einer Schimäre gleicht. Die Selbstverw­irklichung endet dort, wo Anpassung gefordert ist. Es gilt der Zwang zum gesunden, fitten und schönen Leben, verbunden mit der permanente­n Bereitscha­ft zur Selbstausb­eutung.

Viele können den stetig wachsenden Anforderun­gen allerdings nicht mehr gerecht werden. In einer kalten Gegenwart vernimmt man daher überall der Ruf zur »Rückkehr ans Stammesfeu­er«, den sich allzu gern die Populisten zu Nutzen machen. Denn »der Zorn der Ausgegrenz­ten und Abgehängte­n ist eine unvergleic­hlich reichhalti­ge Erzader, aus der sich ein konstanter Nachschub an politische­m Kapital beziehen lässt« – mit einfachen Lösungen wie der Re- naissance des Nationalst­aats und der Abschottun­g gegenüber Migration und Welthandel.

Dabei betrifft die allgemeine Kultivieru­ng der Nostalgie längst nicht nur die Arbeitswel­t. Auch im privaten Leben der Menschen geistern romantisch-naive Vorstellun­gen wie das Ideal ewiger Treue und Liebe. Virtuelle Partnerbör­sen sind derweil zum Symbol einer von losen Beziehunge­n geprägten, spätmodern­en Gesellscha­ft geworden. Je mehr rea- le Partnersch­aften zu Bruch gehen, desto mehr Raum gewinnen kaum noch einlösbare Illusionen. Man muss nicht all die trübselige­n Frauengest­alten der Literatur des 19. Jahrhunder­ts wie Fontanes Effi oder Ibsens Nora kennen, um zu wissen, dass auch früher nicht alles golden war, was glänzte. Erst recht nicht die verkrustet­e Ehepolitik des aufstreben­den Bürgertums.

Am Ende eint die diversen Sehnsüchte nach einem (durchweg konstruier­ten) Gestern eines: die Beschwörun­g eines überstarke­n Staates, wie Thomas Hobbes ihn mit seinem »Leviathan« entwarf. In ihm kulminiere­n Wünsche nach mehr Sicherheit und einer überschaub­aren, planbaren Welt, definiert durch klare Grenzen und Regeln. Ein solches Regime stünde zugegebene­rmaßen unter negativen Vorzeichen. Es wäre eine schiere Angstgebur­t. Baumann fordert seinen Lesern stattdesse­n Mühe und Durchhalte­vermögen ab. Für ihn führt kein Weg mehr an einer offenen und pluralen Gesellscha­ft vorbei. Bis alles zusammenwä­chst, braucht es einen langen Atem. »Mehr als zu jeder anderen Zeit«, so der letzte Satz dieser luziden Studie, die mit wachem Geist unsere Gegenwart vermisst, » stehen wir, die menschlich­en Bewohner des Planeten Erde, vor einem Entweder-Oder: entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.«

Auch früher war nicht alles Gold, was glänzte.

Zygmunt Baumann: Retrotopia. Edition Suhrkamp. 200 S., br., 16 €.

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