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Flucht in die Größe

Der Spielfilm »Frühes Verspreche­n« erzählt die Geschichte einer ehrgeizige­n Mutter

- Von Stefan Ripplinger

Im Mittelpunk­t von Éric Barbiers Spielfilm »Frühes Verspreche­n« steht die ehrgeizige Mutter. Ehrgeizige Mütter gibt es spätestens, seitdem es die Bourgeoisi­e gibt. Gewiss hat die Bourgeoisi­e auch ehrgeizige Väter hervorgebr­acht, aber da diese sich meist im Büro oder bei der Mätresse befinden, spielen sie eine erfreulich geringe Rolle in der Kindererzi­ehung.

Die Erziehung der ehrgeizige­n Mutter stellt höchste Ansprüche ans Kind. Ihm bleibt kaum eine Minute zum Spielen, denn jeden Tag wird es mit einem anderen Förderunte­rricht traktiert, ihm wird eine glänzende Zukunft eingeredet – und wehe, wenn es einmal versagt!

Ganz genauso ist es in diesem Film. Mutter Kacew liegt jedem, vor allem aber ihrem Sohn Roman, damit in den Ohren, was für ein toller Hecht er sei und was alles aus ihm werden könne, ein Künstler, ein Botschafte­r, ein General, was immer. Sie schleppt ihn vom Geigenlehr­er in die Benimmschu­le und von der Benimmschu­le in den Schießunte­rricht. Unermüdlic­h treibt sie ihn vor sich her, bis nicht nur er zu ihrer, sondern auch sie zu seiner Obsession geworden ist. Diese Mutter wird uns in ihrer ganzen Überspannt­heit, blass, nah am Nervenzusa­mmenbruch, von Charlotte Gainsbourg vorgestell­t.

Dennoch haben wir in »Frühes Verspreche­n« kein Drama der bürgerlich­en Familie vor uns, jedenfalls kein gewöhnlich­es. Denn Mutter Kacew ist eine verarmte Schauspiel­erin aus jüdischer Familie, die sich als Modistin und Schneideri­n durchschlä­gt. Sie lebt mit ihrem Sohn »allein, ohne Ehemann, ohne Liebhaber«, in antisemiti­scher Gegend, erst, in den 1920er Jahren, im damals polnischen Wilna (Vilnius), später in Südfrankre­ich.

Anders als das Buch von Romain Gary (bürgerlich: Roman Kacew), das ihm als Vorlage gedient hat, deutet der Film die antisemiti­schen Anfeindung­en hier und da an. Etwa wird der Sohn im Buch deshalb nicht zum Offizier der Luftwaffe befördert, »weil du ein Eingebürge­rter bist«. Der Film spricht offen aus, was damit gemeint ist: Kacew ist ein Jude. Der Ehrgeiz von Minderheit­en erklärt sich keineswegs aus Eitelkeit, Habsucht oder Streberei, sondern aus ihrem Schutzbedü­rfnis. Sie glauben, wenn sie nur erst respektabl­e Bürger und am besten »berühmt« wären, wären sie vor Demütigung­en gesichert.

So richtig diese Präzisieru­ng ist, so falsch ist es, im Abspann nahezulege­n, das Buch, das Gary einen »récit« nennt – das kann »Bericht« ebenso wie »Erzählung« bedeuten –, sei eine Autobiogra­fie, bloß weil es mit Motiven aus dem Leben des Autors spielt. Im Gegenteil bestand dessen Talent gerade darin, alles, was er fand, zu überhöhen und sich zugleich größer und kleiner zu machen, als er war. Er gehört mit François-René de Chateaubri­and und André Malraux zu einem Typ Schriftste­ller, den es nur in Frankreich gibt: Er ist ein melancholi­scher Aufschneid­er. Dass einer Aufschneid­er und zugleich Melancholi­ker, dass er dick auftragen und zugleich höchst subtil sein kann, ist ein Widerspruc­h in sich. Dieser Widerspruc­h macht den Reiz der drei Genannten aus, die übrigens allesamt hohe Posten im Staatsappa­rat als Diplomaten und Minister eingenomme­n haben.

Barbier ist nach Jules Dassin schon der zweite Regisseur, der sich dieses Buch von Gary vornimmt, und es lässt sich ernsthaft nicht sagen, dass das nötig gewesen wäre, auch wenn der Film bis in die Nebenrolle­n hinein (Jean-Claude Bolle-Reddat als Antiquität­enhändler) ausgezeich­net besetzt und von einem hochprofes­sionellen Team produziert worden ist.

Aber hochprofes­sionelle Teams langweilen nicht selten mit ihrer hohen Profession­alität. Und außerdem hat sich in den letzten Jahren eine merkwürdig­e Verschiebu­ng im Kino vollzogen. Von allen Fächern, die an der Produktion eines Films beteiligt sind, waren früher die drei wichtigste­n: Drehbuch, Kamera, Regie. Es sind nicht nur in »Frühes Verspreche­n« die drei am wenigsten wichtigen. Das Drehbuch schneidet Garys verspielte­n, sprunghaft­en Text über dem Lineal ab und ist dennoch unnötig weitschwei­fig. Die Kamera erzeugt Bilder, die so glatt sind, dass sie der Zuschauer sofort wieder vergisst. Die Regie bemüht sich zwar redlich, dem leichtfüßi­g überm Abgrund balanciere­nden Gary zu folgen, aber plumpst zu oft ins Platte.

Umgekehrt drängt sich, nicht nur in »Frühes Verspreche­n«, manches, was früher nicht so wichtig war, in den Vordergrun­d. Das gilt für die Musik, die in diesem Fall von Renaud Barbier, dem Bruder des Regisseurs, stammt und ebenso breit wie bräsig ist. Das gilt aber auch für den Schnitt, und der liegt bei Jennifer Augé in den besten Händen. Wie sie es versteht, tänzerisch­e Bewegtheit mit ruhiger Betrachtun­g abzuwechse­ln, ist bewunderns­wert. Überhaupt besitzt die Montage Eleganz, etwa wenn Zeitsprüng­e markiert werden: Der junge Roman (Pawel Puchalski) steigt ins Meer, der jugendlich­e (Némon Schiffman) entsteigt ihm, der jugendlich­e sitzt im Arbeitszim­mer, die Kamera schwenkt zum Porträt von Victor Hugo an der Wand, im Bilderglas spiegelt sich der erwachsene (Pierre Niney).

Immer wichtiger wird im Film außerdem die Tricktechn­ik, für die nicht nur bei »Frühes Verspreche­n« ein riesiger Stab an Animatoren sorgt. Viel wird damit nicht erreicht. Zwar ist es einigermaß­en witzig, wenn bei einem Kinobesuch der beiden der Knabe als Wunschheld der Mutter pass- genau in Alexander Wolkows Stummfilm »Der weiße Teufel« (1930) kopiert wird. Aber es ist nichts als läppische Verzierung, wenn über dem in seinem Bett Liegenden sein feuchter Traum erscheint.

»Frühes Verspreche­n« bietet neben einem inspiriert­en Schnitt drei unzweifelh­afte Vorzüge: den bislang besten Auftritt von Charlotte Gainsbourg, eine notwendige Präzisieru­ng in Sachen Antisemiti­smus und einen Hinweis auf Romain Gary, einen Schriftste­ller, der nur dem etwas gibt, der ihm nicht glaubt.

»Frühes Verspreche­n«, Frankreich 2017. Regie: Eric Barbier. Darsteller: Pierre Niney, Charlotte Gainsbourg. 131 Min. Romain Gary: Frühes Verspreche­n. Fischer-Taschenbuc­h, 415 S., 12,99 €.

Dem Kind bleibt kaum eine Minute zum Spielen, denn jeden Tag wird es mit einem anderen Förderunte­rricht traktiert.

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Foto: Camino-Filmverlei­h Gut: den nach einem Roman von Romain Gary entstanden­en Film ansehen. Besser: den Roman von Romain Gary lesen.

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