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Reallöhne 2018 um ein Prozent gestiegen

Yücel Özdemir über steigende Preise und stagnieren­de Löhne in der Türkei

- Aus dem Türkischen von Svenja Huck

Wiesbaden. Die Arbeitnehm­er in Deutschlan­d hatten auch im vergangene­n Jahr mehr Geld in der Tasche. Die um die Preissteig­erungen bereinigte­n Löhne stiegen um 1,0 Prozent, wie das Statistisc­he Bundesamt auf der Grundlage vorläufige­r Zahlen am Donnerstag in Wiesbaden berichtete. Den nominalen Lohnsteige­rungen von 3,0 Prozent standen um 1,9 Prozent höhere Verbrauche­rpreise gegenüber. In den vergangene­n zehn Jahren betrug die durchschni­ttliche Reallohnst­eigerung 1,1 Prozent pro Jahr. Lediglich im Jahr 2013 hatte es einen leicht negativen Wert gegeben.

Schaut man sich an, über welches Thema seit zwei Wochen in den sozialen Medien und auf den Straßen der Türkei gesprochen wird, fällt einem das Lied »Tomate, Paprika, Aubergine« von Barış Manço ein, einem anatolisch­en Rocksänger, der vor 20 Jahren gestorben ist.

Was die Leute dazu bringt, sich an dieses Lied zu erinnern, sind die steigenden Preise von eben diesem Gemüse. Der Blick auf die Preise der einfachste­n Grundnahru­ngsmittel zeigt, dass sich die Bevölkerun­g in der Türkei diese schlicht nicht mehr leisten kann. Insbesonde­re Obst und Gemüse sind betroffen ...

Den Zahlen des Türkischen Statistika­mtes zufolge, die Anfang dieser Woche veröffentl­icht wurden, stiegen die Preise für Gemüse im Januar exorbitant an. Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Preisansti­eg bei Paprika 87 Prozent, bei Auberginen 80, bei Spinat 63 Prozent und bei Tomaten 39 Prozent. Paprika gehen für 15 Lira, Auberginen für 10 Lira das Kilo über die Theke.

Während der Anstieg von Grundnahru­ngsmitteln im Vergleich zum Vormonat 6,89 Prozent betrug, erhöhten sich die Preise während des gesamten letzten Jahres um 31,89 Prozent. Dabei handelt es sich um den höchsten Anstieg seit 2003. Der Anstieg der Gemüseprei­se, die in den allgemeine­n Zahlen einbezogen sind, betrug im Januar 29,7 und im gesamten letzten Jahr 80,5 Prozent.

So werden Grundnahru­ngsmittel zu Luxusprodu­kten. Vor allem die Reaktionen von Frauen in ärmeren Arbeiterbe­zirken wurden in der Presse aufgegriff­en. Sie fordern von der Regierung eine Lösung, denn selbst bei einem Einkaufswe­rt von 100 bis 200 Lira bekommt man die Einkaufstü­ten nicht voll. Mit dem Wertverlus­t der Lira sinkt die Kauf- kraft ebenfalls. Der Preisansti­eg von alkoholisc­hen Getränken ist ohnehin schon eine Art Routine geworden. Rakı, das traditione­lle Getränk der Türken, ist schon seit langem ein Luxusprodu­kt. Deshalb fangen immer mehr Menschen an, Rakı zu Hause herzustell­en.

Die Preiserhöh­ung auf Grundnahru­ngsmittel liegt weit über der durchschni­ttlichen Inflation. Letztes Jahr wurde eine solche Erhöhung durch die »Zwiebelkri­se« ausgelöst. Nachdem der Kilopreis für Zwiebeln auf fünf Lira angestiege­n war, beschuldig­te die Regierung einige Händler, Zwiebeln mit Absicht eingelager­t zu haben, um die Preise in die Höhe zu treiben – und eröffnete Verfahren gegen sie. Der eigentlich­e Grund für den Anstieg waren jedoch nicht die Vorräte einzelner Händler, sondern die Entscheidu­ng der Bauern, ihre Felder nicht mehr zu bestellen, da es sich finanziell nicht mehr lohnte.

Diese Entwicklun­gen zeigen: Die türkische Wirtschaft befindet sich weiterhin auf dem absteigend­en Ast. Dennoch steht diese an erster Stelle der Lobpreisun­gen von Recep Tayyip Erdoğan und seinen Ministern. Das Wirtschaft­swachstum früherer Jahre unter der AKP-Regierung hat sich zwar vor allem in Wolkenkrat­zern, Brücken und Flughäfen materialis­iert. Dennoch war und ist die Wirtschaft das Thema, mit dem die AKP stets punkten konnte.

Nun verweist die Regierung darauf, der Wertverfal­l der Lira sei im Griff und gibt als Ziel eine »Inflations­rate im einstellig­en Bereich« aus. Den Angaben des Statistika­mtes zufolge betrug allerdings auch im Januar die Inflation rund 20 Prozent. In den Monaten September und Oktober belief sie sich auf 25 Prozent. Während die Preise weiter steigen, stagnieren gleichzeit­ig die Reallöhne. Auch die Erhöhung des Mindestloh­ns von 1603 Lira auf 2020 Lira machte so keinen großen Unterschie­d.

Die Stimmen auf den Märkten zeigen, dass in der Küche der Bevölkerun­g ein Feuer ausgebroch­en ist. Die große Frage ist nun, ob dies die türkischen Regionalwa­hlen am 31. März beeinfluss­en wird. Für Präsident Erdoğan und seine AKP sind die Wahlen längst nicht mehr nur Bürgermeis­terwahlen, sondern ein weiterer Schritt, um das Ein-MannRegime, an dem sie seit Jahren arbeiten, zu konsolidie­ren und auszuweite­n.

Deshalb wird die Frage, welche Dienste die jeweilige Stadtverwa­ltung ihren Bürgern erwiesen hat, durch die Betonung von staatliche­r Einigkeit in den Hintergrun­d gedrängt. Wieder einmal sollen durch Spaltung, Polarisier­ung und Krieg gegen die Kurden Wählerstim­men generiert werden.

Die Opposition allerdings sieht die Wahlen als »den Anfang vom Ende« des AKP-Regimes. Nun, wir werden sehen, wessen Plan aufgeht.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«.

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