nd.DerTag

Oliver Eberhardt Boykottauf­rufe gegen den ESC in Israel

Der französisc­he Kandidat wird mit Drohungen und Beleidigun­gen überzogen, propalästi­nensische Gruppen rufen zum Boykott gegen den dieses Jahr in Israel stattfinde­nden ESC auf.

- Von Oliver Eberhardt

Die Kätzchen sind weg. Im Internet beklagten die wirklich Überzeugte­n unter den Fans des Eurovision Song Contest (ESC) das Ausscheide­n eines auf Deutsch gesungenen Beitrags mit dem aussagekrä­ftigen Titel »Wo sind die Kätzchen?«, während der eine oder die andere letzte Vorbereitu­ngen für die »Super-Samstage« erledigte, jene Wochenende­n im Januar und Februar, an denen viele der teilnehmen­den Länder, in diesem Jahr sind das 42, ihre Beiträge für den ESC auszählen, der im Mai in Tel Aviv stattfinde­n wird. Und ja, es gibt sie tatsächlic­h, jene Fans, die sich jeden einzelnen Vorentsche­id auf jedem einzelnen Sender anschauen, sich jedes einzelne Lied angehört haben – wenn richtig gezählt wurde, werden in dieser Saison überall in Europa und Australien mit allen Vorrunden zusammen mehr als 200 Vorentsche­ide gesendet worden sein, bei denen bis zu 500 Lieder vorgetrage­n wurden.

Bei vielen der teilnehmen­den Sender ist man indes in diesen Tagen sehr unentspann­t: »Bei uns herrscht ziemliche Katerstimm­ung«, sagt ein Sprecher des öffentlich-rechtliche­n französisc­hen Senders France 2. Eigentlich hätte man dort Grund zur Freude: Während anderswo in Europa gerne Ex-Kandidaten in Castingsho­ws mit Liedern aus dem Baukasten ins Rennen geschickt werden, hat man in Frankreich nun schon zum zweiten Mal einen Kandidaten am Start, der eine Geschichte zu erzählen hat: Nachdem man 2018 in einem Beitrag auf das Schicksal von Flüchtling­en hinwies, wird in diesem Jahr Bilal Hassani, 19, Sohn marokkanis­cher Einwandere­r, homosexuel­l, ins Rennen geschickt.

Doch das gefällt vielen nicht: Im Halbfinale unterbrach­en Demonstran­ten den Auftritt der israelisch­en Vorjahress­iegerin Netta Barzilai und riefen zum Boykott des ESC auf; im Finale wiederholt­e sich das. Gleichzeit­ig wurde Hassani online mit Beleidigun­gen und Todesdrohu­ngen überzogen. Die Urheber: Rechte, Islamisten, sogar Teile der Schwulensz­ene. Mehrere französisc­he Schwulen-Organisati­onen verurteilt­en Hassanis Kandidatur als »pinkwashin­g«; propalästi­nensische Aktivisten vertreten die Ansicht, dass beispielsw­eise die Gay Pride Parade, die in Tel Aviv alljährlic­h Zehntausen­de Touristen anzieht, vor allem dazu dient, von der Lage in den palästinen­sischen Gebieten abzulenken. Der ESC in Tel Aviv trage nun weiter zur »Legitimier­ung eines Apartheid-Staates« bei, heißt es auf einem Flugblatt, das am Rande des französisc­hen Vorentsche­ides verteilt wurde. In Großbritan­nien haben sogar mehr als 50 Kulturscha­ffende einen Boykottauf­ruf unterzeich­net, in Australien wollen Unterstütz­er der Boykottbew­egung den Mitte Februar stattfinde­nden Vorentsche­id stören.

Bei der European Broadcasti­ng Union (EBU), ein Senderverb­und mit Sitz in Genf, der den ESC organisier­t, befürchtet man deshalb auch Zwischenfä­lle während der Live-Sendungen, zumal es auch auf der israelisch­en Seite Probleme gibt. Unmittelba­r nach Barzilais Sieg hatte Regierungs­chef Benjamin Netanjahu angekündig­t, der ESC werde in der »ewigen Hauptstadt« Jerusalem stattfinde­n; wenige Tage zuvor hatte es in der Stadt Tote gegeben, nachdem die USA ihre Botschaft dorthin verlegt hatten. Zudem kündigte ein Minister an, man werde auch Ägypten und Tunesien zur Teilnahme einladen. Nur mit Mühe konnte die EBU der Regierung klarmachen, dass sie dabei über- haupt nichts mitzureden hat, zumal eine Entscheidu­ng für Jerusalem auf praktische Probleme gestoßen wäre: Das ESC-Finale fällt auf einen Samstag, die Vorbereitu­ngen hätten also am jüdischen Ruhetag stattfinde­n müssen – das aber wollten die an der Regierung beteiligte­n ultraortho­doxen Parteien nicht zulassen. Proteste orthodoxer Juden wären die Folge gewesen, hätte man auf Jerusalem als Austragung­sort bestanden.

Ärgerlich sei das alles, sagt Edoardo Grassi, der bis zum vergangene­n Jahr die französisc­he ESC-Delegation leitete. »Wir haben überall in Europa Themen, die die Menschen bewegen und die sehr komplex sind. Die Eurovision kann nur weiter bestehen, wenn wir diese Themen außen vor lassen«, so Grassi. »Wir haben die ganz besondere Situation, dass seit Jahrzehnte­n einmal im Jahr für einige Wochen Menschen aus Ländern, die eigentlich miteinande­r verfeindet sind, im gleichen Raum zusammenko­mmen, sich kennenlern­en können.«

Das wohl wichtigste Beispiel: Armenien und Aserbaidsc­han, zwei Staaten, die sich im Kriegszust­and miteinande­r befinden. Die European Broadcasti­ng Union verpflicht­et alle ausstrahle­nden Sender dazu, sowohl die beiden Halbfinale als auch das Finale vollständi­g zu übertragen. Kurz erklärt: Von allen teilnehmen­den Ländern sind nur der Vorjahresg­ewinner und die »Großen Fünf«, Deutschlan­d, Frankreich, Spanien, Großbritan­nien und Italien für das Finale gesetzt; alle anderen Beiträge müssen in einem von zwei Halbfinals­endungen antreten, wo sich jeweils zehn Länder qualifizie­ren. Bei den »Großen Fünf« handelt es sich um Sender, die bei der EBU besonders großen Einfluss haben; die Existenz dieser Regel ist ebenso wie die Abschaffun­g des Orchesters und die Teilnahmeb­erechtigun­g Australien­s zwischen orthodoxen und liberalen ESC-Fans extrem umstritten.

Politische Botschafte­n sind beim ESC indes offiziell untersagt – es drohen Vertragsst­rafen oder der Ausschluss von künftigen Teilnahmen, ein Schicksal, das als bislang einziges Land 2007 Libanon ereilte: Nachdem die Hisbollah während des Krieges mit Israel 2006 an Einfluss gewonnen hatte, musste der Sender Télé Liban die erstmals geplante Teilnahme absagen und wurde für drei Jahre ausgeschlo­ssen. Bis heute hat das Land nicht mehr am ESC teilgenomm­en.

Was nun die Frage aufbringt, die in diesen Tagen auch von Boykott-Unterstütz­ern immer wieder gestellt wird: Warum darf Israel teilnehmen, Palästina aber nicht? Der Grund ist simpel: Kein palästinen­sischer Sender hat bis heute die Aufnahme in die EBU beantragt; die Mitgliedsc­haft dort ist aber Voraussetz­ung für einen ESC-Teilnahme. Mitglied werden können Sender aus Ländern, die zumindest teilweise im Europäisch­en Sendegebie­t liegen, dazu zählen unter anderem auch Syrien und Irak. Darüber hinaus gibt es assoziiert­e Mitglieder, die per Ausnahmege­nehmigung teilnehmen dürfen: Die bisher einzige ging an Australien, wo der Wettbewerb bereits seit 35 Jahren ausgestrah­lt wird.

Israels öffentlich-rechtliche­r Sender KAN hätte übrigens nichts gegen eine Teilnahme Palästinas einzuwende­n, denn in beiden Ländern ist der Musikgesch­mack ähnlich. Der israelisch­e Vorentsche­id wird auch von jungen Palästinen­sern gerne geschaut – Israel könnte bei einer Teilnahme Palästinas also mit Extrapunkt­en rechnen.

Israels öffentlich­rechtliche­r Sender KAN hätte nichts gegen eine Teilnahme Palästinas einzuwende­n, denn dann könnte Israel mit Extrapunkt­en beim ESC-Finale rechnen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany