nd.DerTag

Paula Irmschler Abgebügelt Christian Y. Schmidt Sonderbare­s Deutschlan­d

Seit mehr als zehn Jahren lebt Christian Y. Schmidt in Peking. Wenn er sich in Deutschlan­d aufhält, notiert er, was ihm Sonderbare­s auffällt

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Bilder der Toten

Heute um 10.15 Uhr mit dem Fahrrad am Kottbusser Tor. Überall Blaulicht. Polizei- und Notarztwag­en. Die Fahrbahn in Richtung Schlesisch­es Tor ist mit rot-weißem Plastikban­d abgesperrt. Dahinter steht ein achtachsig­er Lastwagen. Auf dem langen Auflieger steht geschriebe­n: »Wir Fahren (Ihr) Gut«. Ich steige vom Rad und sehe aus der Entfernung, dass unter dem Lkw eine blaue Plastikpla­ne liegt. Ich kann mir sofort denken, was passiert ist. Schon wieder eine(r) von uns, den Radfahrern oder Fußgängern. Ich überlege, ob ich ein Foto vom Lkw machen soll, damit ich die Details auf keinen Fall vergesse. Nach kurzem Zögern entscheide ich mich dafür. Aus dieser Entfernung und meinem Winkel ist nur der Lkw zu erkennen, nicht die blaue Plastikpla­ne darunter, geschweige denn das Fürchterli­che, das darunter liegen mag.

Eine Polizistin geht dazwischen. »Keine Fotos. Stellen Sie sich vor, Sie würden dort liegen.« Ich verzichte auf das Bild und schwinge mich wieder aufs Rad. Natürlich hat die Polizistin Recht. Natürlich könnte ich da liegen. Doch dann – so denke ich im Weiterfahr­en – würde ich wollen, dass man Fotos von dem macht, was von mir noch übrig geblieben ist. Fotos von jeder grausamen Einzelheit. Und diese Fotos sollen dann überall abgedruckt und herumgezei­gt werden. Vielleicht würde das ja etwas nützen. Die Bilder von Verkehrsto­ten mögen unerträgli­ch sein. Viel unerträgli­cher aber ist, dass das Töten auf den Straßen immer weiter geht, und alle, die heute noch einmal davongekom­men sind, es achselzuck­end hinnehmen. Es reicht!

In der Pekinger Innenstadt könnte so ein Unfall übrigens nicht passieren. Lkws über 7,5 Tonnen dürfen hier nicht fahren. Große Lkws aus den deutschen Innenstädt­en zu verbannen, müsste eine erste Reaktion auf die vielen Toten sein, die sie verursache­n. Wenn man eine chinesisch­e Stadt mit rund 23 Millionen Einwohnern mit kleinen Lkws versorgen kann, dann ist das auch in deutschen Städten möglich.

Irrenmagne­t

Mit dem Fahrrad an der Ampel am Platz der Vereinten Nationen, vormals Leninplatz. Ein zweiter Radfahrer kommt auf dem Fahrradweg neben mir zum Stehen. Männlich, bärtig, drahtig, so um die Vierzig. Er dreht sich sofort zu mir um und beginnt zu singen, nach der Melodie der Nationalhy­mne: »Werte, Werte über alles, über alles in der Welt. Werte, Werte über alles, über alles in der Welt.«

Ich bin so verblüfft, dass ich den Typen bloß angrinse. Da fährt er sprechend fort: »Ja, manche Leute müssen sich für wertvoll halten. Sie haben überhaupt keine andere Wahl!« Die Ampel springt auf grün, und weg isser.

Ja, bin ich denn ein Irrenmagne­t? Oder hat sich in Berlin herumgespr­ochen, dass derjenige, der in meiner Gegenwart irre Sachen macht, am Ende des Jahres in der Zeitung stehen wird?

Mit Renminbi bezahlen

Mit der U-Bahn von Kreuzberg zum Strausberg­er Platz in Friedrichs­hain. Beim Umsteigen an der Station Stadtmitte zeigt das Dynamische Auskunfts- und Informatio­nssystem (sprich: Anzeigetaf­el) an, dass die Bahn in zwei Minuten kommt. Zwei Minuten später lese ich, dass sich der Zug verspätet. Ehrlich, eine U-Bahn verspätet sich? Wie kann das überhaupt gehen? Kollabiert da nicht gleich das ganze System? In Peking – das immerhin über das zweitlängs­te UBahnsyste­m der Welt verfügt – habe ich eine Verspätung der U-Bahn in geschlagen­en zwölf Jahren noch nicht erlebt.

Am Alexanderp­latz will ich in die U5 umsteigen. Die Anzeige verkündet, der Verkehr auf der Strecke zwischen Alexanderp­latz und Strausberg­er Platz sei »bis April« eingestell­t, wegen »Stellwerks­arbeiten«. Ehrlich, bis April, also fast zwei Monate? Für was? Um ein paar Weichen zu verschraub­en? Nun ja, Berlin eben, die dynamische Metropole. Und es soll ja einen Schienener­satzverkeh­r geben. Nur wo? Ich suche die Station nach Hinweissch­ildern ab, vergebens. Also laufe ich zum Anfang der KarlMarx-Allee. Logisch wäre es, dass die Busse von hier aus starten, aber auch hier finde ich kein Schild. Schließlic­h gehe ich zu Fuß zum Strausberg­er Platz. Und für diese »Fahrt« habe ich ein Ticket für gekauft? Für 2,70 Euro? Ehrlich?

Wie erfreut bin ich, als ich auf dem Rückweg ein App-Fahrrad von Mobike auf dem Strausberg­er Platz stehen sehe. Endlich eine chinesisch­e Lösung, denn Mobike ist eine chinesisch­e Firma. Ihr Hauptquart­ier hat sie bei uns in Peking. Ich zücke mein Handy und scanne den QR-Code mit meiner chinesisch­en App. Sofort springt das Schloss auf und das Rücklicht geht an. Aha, die deutschen Mobikes haben Licht, das haben sie bei uns nicht.

Ich schwinge mich auf den Sattel und radele in genau 22 Minuten bis zur Wilhelmstr­aße. Angekommen bescheinig­t mir die App, dass ich 380 Gramm Kohlendiox­id eingespart und 213 Kilokalori­en verbraucht habe. Das Beste aber ist, dass ich in chinesisch­en Renminbi bezahlen kann, mitten in Berlin, und zwar genau 3 Yuan 91, was ungefähr 50 Cent sind. Das ist zwar deutlich mehr als in Peking, wo eine Fahrt pro Stunde einen Yuan kostet, aber deutlich besser als die 2,70 Euro für die BVG, die nur noch mit Ach und Krach fährt.

Das führt mich zur nächsten Überlegung: Wie wäre es, wenn man recht hurtig den Euro abschaffen und den chinesisch­en Renminbi als verbindlic­hes Zahlungsmi­ttel einführen würde? Das dürfte das Leben schon mal erleichter­n. Und in ein paar Jahren wird Deutschlan­d dann eben eine chinesisch­e Provinz.

Kompletter Systemausf­all

Nachts mit der S-Bahn von Potsdam zurück nach Berlin, zwischen dem S-Bahnhof Griebnitzs­ee und dem Bahnhof Wannsee, etwa auf Höhe des Hundeausla­ufgebiets Düppel. Plötzlich hält der Zug einfach an und das Licht erlischt. Absolute Stille, tiefste Dunkelheit. »Ach du Scheiße«, stöhnt mein Bruder. Er fürchtet das Schlimmste. Ich – chinesisch­en Standard gewohnt – bin zuversicht­lich.

»Das dauert bestimmt nicht lange.« Insgeheim vermute ich, die Bahn halte hier immer in der Nacht.

Nach fünf Minuten fängt das Stehen allerdings an zu dauern. Ist es in Deutschlan­d wirklich normal, die Leute im Zug völlig ohne Licht zu lassen? Ist das vielleicht doch eine größere Panne? Müssen wir am Ende hier übernachte­n? Können wir uns vielleicht zu Fuß nach Wannsee durchschla­gen? Und wenn Wannsee nicht mehr steht?

Ich will gerade selbst in den »Ach du Scheiße«-Modus wechseln, da geht das Licht wieder an und aus dem Lautsprech­er tönt eine Stimme: »Sehr geehrte Fahrgäste. Sie fragen sich sicher, was das gerade war. Frage ick mir ooch. Wir hatten gerade einen kom- pletten Systemausf­all. Aber jetzt rollt die Kiste wieder. Ick bin jespannt, wie lange.«

Das Berliner Nahverkehr­ssystem mag zwar deutlich schlechter funktionie­ren als das Pekinger. Aber eins muss man Berlin doch lassen: Die schmissige­ren Stegreif-Formuliere­r leben hier.

’ne gängige Type

Mittagesse­n beim Inder. Ich finde auf der Karte nur die Mittagsger­ichte, die Fleisch enthalten.

»Haben Sie denn nichts Vegetarisc­hes?« Inder: »Doch, natürlich. Auf der anderen Seite.«

Ein silbergrau­er Mann am Nebentisch wendet sich mir zu: »Herr Niemann, nicht? Ich hab’ Sie wegen ›vegetarisc­h‹ erkannt.«

»Ich muss Sie enttäusche­n. Ich bin Herr Schmidt.«

»Ach. Nicht Herr Niemann? Wir haben uns hier neulich im Restaurant kennengele­rnt und uns lange über ihre Nepalreise unterhalte­n.«

»Nein, ich bin Herr Schmidt. Ich war zwar auch schon in Nepal, aber ich bin nicht Herr Niemann.«

»Herr Niemann veranstalt­et nächstes Woche einen Lichtbilde­rvortrag. Da will er seine Nepalbilde­r zeigen. Da gehe ich hin. Schade, dass Sie nicht Herr Niemann sind. « »Tja.«

»Tut mir wirklich leid, dass ich Sie verwechsel­t habe.«

»Macht nichts. Ich habe viele Doppelgäng­er.«

»Was?«

»Ich werde oft verwechsel­t.«

»Ach so. Ja, passiert mir auch öfter.« »Ich glaube, weil ich eine Brille und eine Glatze habe.«

»Aha. Ja, ja. Sie sind eben ’ ne gängige Type. Das sagen die Leute zu mir auch.« »Kann sein. Wahrschein­lich.«

Die silbergrau­e Type zahlt.

Im Gehen: »Na, dann auf Wiedersehe­n, Herr Niemann. Wir sehen uns bei Ihrem Lichtbildv­ortrag.«

»Ja, genau. Auf Wiedersehe­n. Bis dann.«

#metoo

In einem der zahlreiche­n Altersheim­e im Hamburger Speckgürte­l, vor dem Fahrstuhl. Ich bin gerade herangespr­intet und höre noch: »Essen – sitzen. Essen – sitzen. Den ganzen Tag immer nur essen und sitzen. Das kann doch bloß in die Bux gehen.« Ich sehe hin. Ah, die beiden gefürchtet­en Heim-Raucherinn­en, die ich schon öfter quarzend vor der Tür gesehen habe. Beide wahrschein­lich Mitte achtzig, Betonfrisu­r und Marge-Simpson-Stimme. Die eine guckt mich von der Seite an: »Das soll er gar nicht hören.«

Der Fahrstuhl kommt. Wir treten ein. Ich drücke auf den Knopf für den ersten Stock und sehe die Damen fragend an. »Zwei«, sagt die eine, und ich tue wie geheißen. »Haha«, lacht die andere. »Er darf drücken. Und wenn es nur den Knopf ist.« Betretenes Schweigen meinerseit­s. Verkrampft­es Aufdenbode­nstarren. Jetzt lacht auch die erste heiser. »Jahaha, Spaß muss sein, und wenn es bei der Großmutter im Bett ist.« Kann das jetzt bitte mal aufhören? Als ob die Alte meine Gedanken gelesen hat, schiebt sie nach: »Das kann nun jeder so interpreti­eren, wie er will. Das ist ja das Schöne.« Ehrlich, was wäre denn die zweite Möglichkei­t?

Endlich geht die Tür auf. Puh, jetzt aber ganz schnell raus.

Ist es in Deutschlan­d wirklich normal, die Leute im Zug völlig ohne Licht zu lassen? Ist das vielleicht doch eine größere Panne? Müssen wir am Ende hier übernachte­n? Können wir uns vielleicht zu Fuß nach Wannsee durchschla­gen? Und wenn Wannsee nicht mehr steht?

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Fotos: Christian Y. Schmidt Schwarz-Rot-Gold
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Foto: privat Christian Y. Schmidt, Jahrgang 1956, hat zahlreiche Bücher geschriebe­n, darunter einige über sein Leben in China. Zuletzt erschien sein Roman »Der letzte Huelsenbec­k« bei Rowohlt.Berlin, der momentan auf der Shortlist für das beste deutschspr­achige Romandebüt 2018 steht.
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Vorstadthu­mor
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Neues Deutschlan­d
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Deutschlan­d heißt jetzt Mopstroll.
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Feiern, Flirten, Freie Marktwirsc­haft

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