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Frank Brendle Ignorierte­r Völkermord an Roma in der Ukraine

Ein internatio­nales Projekt geht den Morden der deutschen Besatzer an ukrainisch­en Roma nach. Es stößt auf Verbrechen und Widerstand, Kollaborat­ion und Hilfe.

- Von Frank Brendle

Gemessen an der Monstrosit­ät des Völkermord­es sind die meisten Erinnerung­szeichen – so es sie überhaupt gibt – grotesk bescheiden: Am Rande eines Feldweges in der Nähe von Lubny, einer Kleinstadt auf halber Strecke zwischen Kiew und Charkiw, versammeln wir uns vor einem unscheinba­ren Holzkreuz, das an die Gräuel durch die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erinnert. Es wurde vor wenigen Jahren von der örtlichen Kosaken-Organisati­on gestiftet.

»Als wir bei unserer Untersuchu­ng ein paar Mal mit dem Spaten schaufelte­n, stießen wir auf Kinderschä­del«, berichtet Kosaken-Chef Sergij Timoschenk­o. Obwohl die Dorfbevölk­erung Bescheid wusste, sei das Massengrab in der Sowjetzeit ignoriert worden. Die Überreste von Kriegsgefa­ngenen, Juden und Roma liegen hier bis heute. »Hier hat man auf Menschenkn­ochen Kartoffeln angebaut.«

An der Einweihung des Kreuzes hätten Vertreter von 30 zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen teilgenomm­en. Von der Ortsverwal­tung kam keiner – im Gegenteil: Timoschenk­o zufolge hat die sich sogar über den nicht genehmigte­n Denkmalbau beschwert.

Auch in Wyderta, 700 Kilometer entfernt, nahe der belorussis­chen Grenze, erinnert ein orthodoxes Kreuz an ein Massaker. In dem Dorf erschossen die Deutschen im Herbst 1943 die Bewohner eines Roma-Lagers. Die Lehrerin Halina Jewtschuk hat vor einigen Jahren etliche Zeitzeugen befragt und ihre Erzählunge­n veröffentl­icht. Das Kreuz wurde von Roma errichtet, unterhalte­n wird es von der Gemeinde.

Mikhail Tyaglyy, Historiker am ukrainisch­en Zentrum für Holocaustf­orschung in Kiew, ist unser Partner in diesem Projekt, bei dem es darum geht, so viele Zeitzeugen wie möglich zu befragen. Einer sechswöchi­gen Recherche im Frühjahr folgte eine Bildungsre­ise im September 2018, an der fünf deutsche und fünf ukrainisch­e Studenten sowie Mitglieder von NGOs teilnahmen, unter ihnen Roma und Nicht-Roma.

Tränen und Entsetzen gehören zum Alltag dieser Exkursion. In Tschernjac­how, nahe Schytomyr, berichtet uns die 89-jährige Olha Woloschyna, wie Deutsche und ukrainisch­e Hilfspoliz­isten eines Morgens in ihrer Straße erschienen und gezielt die Häuser der Roma aufsuchten. Woloschyna war damals

Die Verklärung der Bandera-Truppe als angebliche Freiheitsb­ewegung hat seit dem Regierungs­wechsel von 2014 praktisch den Stand eines nationalen Dogmas.

14. Alle Roma, erzählt sie, seien auf drei Lastwagen geladen und weggebrach­t worden. Als ihre Mutter die Deutschen sah, schickte sie Olha zum Onkel. Dessen Schwiegerm­utter – die keine Romni war – begriff, was sich abspielte, und reagierte schnell: Gegenüber den ukrainisch­en Polizisten behauptete sie, das Mädchen sei ihre Enkelin, und sie sei Ukrainerin, keine Zyganka. (Der Begriff »Roma« ist im ukrainisch­en Alltagsspr­achgebrauc­h unüblich bzw. unbekannt. Der Begriff »Zygany« ist die Selbstbeze­ichnung der Minderheit und enthält keine negative Konnotatio­n.) Die Polizisten bedrängten das Mädchen zu sagen, wo ihr Vater sei, aber sie blieb stumm. »Ich hatte schon kapiert, dass es ums Erschießen geht«, sagt Woloschyna im Gespräch. Ihre Eltern und alle anderen Roma des Viertels wurden noch am gleichen Tag in einem Waldstück am Stadtrand erschossen, sie selbst war die einzige Überlebend­e.

Die Berichte der Zeitzeugen machen aber auch deutlich: Wir erkunden hier keine reine Opfergesch­ichte, sondern auch eine von Widerstand und Kampf. »Meine ganze Verwandtsc­haft war bei den Partisanen«, erinnert sich Olha Woloschyna. Wer nicht kämpfte, brachte ihnen Lebensmitt­el. »Was man hatte, das teilte man.« Die Einglieder­ung in Partisanen­einheiten bot vielen Roma eine Überlebens­chance. Wolodymyr Chomitsch in Schytomyr war mit seiner Familie auf der Flucht in den Wäldern. Dorfbewohn­er hätten ihnen gesagt, dass die Partisanen nicht weit seien. »Wir gingen und gingen und sind schließlic­h den Partisanen begegnet«, darunter seien schon mehrere seiner Verwandten gewesen. Es sei eine Art Familienla­ger unter Führung der Einheit von Sydir Kovpak gewesen. Dort lebten sie in Erdhütten.

Der Erinnerung an die Partisanen wohnt ein beträchtli­cher politische­r Konfliktst­off inne. Denn die von uns befragten Roma erklären fast alle, dass sie die sowjetisch­en Partisanen als Schutz wahrgenomm­en hätten, von den »Bandera-Leuten« hingegen – benannt nach Stepan Bandera, dem wichtigste­n Anführer der Nationalis­ten – nichts Gutes zu erwarten hatten. »Man fürchtete sich vor den Deutschen und vor den Banderowzy«, erinnert sich Ljubow Koselez in Lutsk. Ihre Mutter sei von den Nationalis­ten verprügelt worden, nachdem ihr Vater, der in der Roten Armee diente und den Nationalis­ten als »Moskal«, als Moskauhöri­ger, galt, ihr ein Paket geschickt hatte. Den Begriff »Banderowzy« benutzen viele überlebend­e Roma als Sammelbegr­iff für Kollaborat­eure und nationalis­tische Milizen. Dabei hat die Verklärung der Bandera-Truppe als angebliche Freiheitsb­ewegung seit dem Regierungs­wechsel von 2014 praktisch den Stand eines nationalen Dogmas.

Mikhail Tyaglyy hat vor wenigen Monaten einen Artikel über die Beteiligun­g der UPA – der 1942 als »Ukrainisch­e Aufständis­che Armee« aufgestell­ten Militärorg­anisation der Nationalis­ten – an den Morden an Roma veröffentl­icht. Hatte diese es zunächst überwiegen­d auf nomadisier­ende Roma abgesehen, die ihr als Spione galten, radikalisi­erte sich die antizigani­stische Haltung im Lauf des Krieges. Die UPA begann Roma zu erschießen, die ihr als Bedrohung der »reinen« ukrainisch­en Nation galten. Mit solchen Texten lässt sich in der Ukraine zurzeit nicht gut Karriere machen.

Denn der nationalis­tische Konsens ist auch in den Museen allgegenwä­rtig, in denen wir uns umsehen, um Räume für unsere Ausstellun­g im kommenden Jahr zu vereinbare­n. Überall das Gleiche: Die Bandera-Leute, die UPA – sie sind nicht nur präsent, sie werden als Heroen dargestell­t. In Kiew besichtige­n wir das Museum der Geschichte der Ukraine während des Zweiten Weltkriege­s – das mit Abstand bestbesuch­te Museum der Stadt, gelegen inmitten einer sowjetmonu­mentalen Gedenkanla­ge. Zur UPA heißt es dort, sie sei ein Teil der europäisch­en Widerstand­sbewegung gewesen. Über ihre nationalis­tische Zielsetzun­g, die fall- und zeitweise Kollaborat­ion mit den Nazis und den Genozid an der polnischen Bevölkerun­g in Wolhynien wird kein Wort verloren.

Dafür, dass so wenig über den Völkermord an Roma bekannt ist, werden häufig die Roma selbst verantwort­lich gemacht: »Roma wollen nicht über den Völkermord reden, deswegen sind so wenige Zeitzeugen­berichte überliefer­t« – wie oft haben wir diesen Spruch gehört. Von Aktivisten wie von Wissenscha­ftlern. Doch während der fast acht Wochen führen wir Interviews mit über 50 Zeitzeugen, von der polnischen bis zur russischen Grenze, und nur ein einziger verweigert sich der Begegnung mit uns. Manche Roma kommen aus dem Erzählen gar nicht mehr heraus, sie reden so lange, bis sie vor Müdigkeit nicht mehr können. Und wo sie Gedächtnis­lücken haben, springen häufig Kinder und Enkel ein. Spätestens da geht uns auf: Die Roma haben nie über das Thema geschwiege­n. Es hat ihnen bloß niemand außerhalb ihrer Gemeinscha­ft zugehört.

Zum Beispiel Iwan Bilaschtsc­henko, der heute in Tscherkass­y lebt. Wer sich anfangs noch sorgte, die Zeitzeugen könnten überforder­t sein, wenn eine Gruppe von bis zu 20 Leuten aufkreuzt, inklusive Kameratech­niker und Übersetzer, wird von dem 92-Jährigen eindrucksv­oll vom Gegenteil überzeugt.

Es ist warm und sonnig, im Hof werden Bänke aufgestell­t, und dann ist Bilaschtsc­henko nicht mehr zu bremsen. Er erzählt, wie er erfuhr, dass erst Juden, dann Roma ermordet wurden, wie er den Deutschen, die ihn zur Zwangsarbe­it verschlepp­en wollten, gleich zweimal entkam, einmal aus dem fahrenden Zug springend. Immer neue Details sprudeln aus ihm hervor. Nach einer Stunde, man sieht ihm an, dass er müde wird, bittet er seine Tochter, die Sowjetunif­orm zu bringen. 1943 kam er als 17-Jähriger zur Armee. Der Musterungs­arzt habe ihn gefragt: »Und, Iwan, wirst du die Deutschen besiegen?« »Na klar«, habe er geantworte­t. Stolz präsentier­t er seine Orden.

Von Bilaschtsc­henko erfahren wir auch, dass es in seiner Kindheit keine Rolle für ihn spielte, Zygan zu sein. Seine Familie habe gelebt wie alle anderen auch, die Hautfarbe war ein bisschen dunkler – »mehr nicht«. Erst das Erscheinen der Deutschen habe ihm klargemach­t, was es bedeute, zur Minderheit zu gehören. Als der Dorfältest­e seinem Onkel anvertraut­e, die Deutschen hätten bei der Kreisleitu­ng nach »Zigeunern« gefragt, wusste die Familie schon, was das bedeutet. Es wurde Geld gesammelt, mit dem der Dorfältest­e, auch Starost genannt, die Kreisleitu­ng bestechen konnte. Bilaschtsc­henko genießt es sichtlich, endlich einmal befragt zu werden. Erst nach eineinhalb Stunden endet er, zum Umfallen müde. Was nicht bedeutet, dass die Gäste nun entlassen wären. Jetzt heißt es: Ab in die gute Stube, Tee und Brötchen essen – und weiterrede­n.

So weit verbreitet Kollaborat­ion auch gewesen ist – wer überlebte, verdankte dies häufig der Solidaritä­t von Nicht-Roma. In einem wolhynisch­en Dorf berichtet uns etwa Paraskowij­a Stojanowit­sch, dass ukrainisch­e Polizisten nach Roma gefragt hätten. Der Vater war Schmied, die Mutter betrieb Wahrsagere­i – natürlich wussten alle im Dorf, dass es eine Roma-Familie war. »Aber das ganze Dorf stand für uns ein.«

Wir fragen die Zeitzeugen auch nach ihrer Einschätzu­ng zur heutigen Stellung der Roma in der Ukraine. Die Antworten überrasche­n uns: Fast alle äußern sich positiv, es

gebe eigentlich keine Probleme. Sie hätten gelebt und gearbeitet wie alle anderen auch, erzählen sie. Von den antizigani­stischen Gewaltausb­rüchen im Frühjahr 2018, bei denen in Lwiw ein junger Mann ermordet wurde, haben sie nichts gehört. Diskrimini­erung scheint nur ein Thema junger Roma zu sein.

Tetjana Logwinjuk, die in Lutsk die Organisati­on »Terne Roma« leitet, berichtet hingegen von vielfältig­en Diskrimini­erungen, von Segregatio­n in Schulen und Krankenhäu­sern, Willkür seitens Behörden. »Man muss die Behörden ständig kontrollie­ren«, sonst seien die Roma rechtlos, aber ihre Organisati­on könne das nur vereinzelt leisten.

Der Politologe Wjatschesl­aw Lichatsche­w, der in Kiew für den Kongress nationaler Minderheit­en ein Monitoring der Hassverbre­chen durchführt, schildert dazu, dass die Aktivitäte­n rechtsextr­emer Gruppierun­gen Anfang 2018 massiv zugenommen hätten, »fast wie eine Epidemie«. Die Rechtsextr­emen hätten zwar als eigenständ­ige Parteien kaum Erfolgsaus­sichten, infolge der wirtschaft­lichen Misere und der allgemeine­n Gewalterfa­hrung durch Krieg und Kriminalit­ät aber erheblich an Legitimitä­t ge- wonnen. Dabei spiele eine Rolle, dass rechtsextr­eme Milizen in vorderster Front im Donbass gekämpft hätten. Deswegen sei die internatio­nale Kritik an ihnen bzw. am fehlenden Elan der Regierung, sie zu bekämpfen, durchaus zweischnei­dig: Viele Ukrainer hätten dann sofort den Verdacht, der Westen übernehme die »russische Propaganda«. Die Lage scheint ähnlich ver- fahren wie bei der Bewertung der BanderaTru­ppe: Eine seriöse Aufarbeitu­ng kollidiert mit nationalis­tischen Leiterzähl­ungen.

Gemessen an der Monstrosit­ät der Verbrechen wirken Gedenkkreu­ze an Orten wie Wyderta und Lubny unscheinba­r. Und doch sind diese Zeichen häufig das Einzige, was überhaupt noch an die Morde an Roma erinnert. Nur in Kiew und Tschernihi­w gibt es relativ große Denkmäler, die in den letzten Jahren errichtet worden sind. Für Raissa Nabarantsc­huk, deren Großmutter nach einer Razzia im Kiewer Stadtteil Podil verschwand, sind solche Erinnerung­szeichen wichtig: »Unsere Zygany haben auch gekämpft, sie haben für unsere Heimat gelitten, viele sind gefallen. Alle sollen es sehen, dass auch wir an der Befreiung unserer Heimat teilgehabt haben«, sagt sie am Roma-Denkmal in der Gedenkstät­te Babyn Jar.

Eine Entschädig­ung haben die ukrainisch­en Roma nicht erhalten. Ihre ökonomisch­e Situation entspricht häufig dem unteren ukrainisch­en Durchschni­tt. Viele haben ihr Berufslebe­n auf Kolchosen oder in Fabriken verbracht. Wir stoßen aber auch auf Überlebend­e, die in zugigen, verfallend­en Hütten wohnen, wo die Brote, die wir mitbrachte­n, von den Kindern im Nu aufgegesse­n wurden. Einige Überlebend­e berichten uns, zu Anfang der 2000er Jahre hätten sie einen Betrag von 400 bis 600 Dollar erhalten, der aus einem »Globalabko­mmen« Deutschlan­ds mit der Ukraine stammte. Diese einmalige Zahlung soll, nach offizielle­r Auffassung der Bundesregi­erung, das erlittene Leid vollständi­g abgelten. Auch an dieser Stelle wäre deutsche Verantwort­ung einzuforde­rn.

Die Roma haben nie über das Thema geschwiege­n. Es hat ihnen bloß niemand zugehört.

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Foto: Gerit Ziegler
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Foto: Frank Brendle Mikhail Tyaglyy spricht in Babyn Jar am Denkmal aus den 1970er Jahren.
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Fotos: Frank Brendle Die 89-jährige Olha Woloschyna war 14 Jahre alt, als ihre Eltern und alle anderen Roma aus ihrem Viertel erschossen wurden.
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Iwan Bilaschtsc­henko ist den Nazis zweimal entkommen. Er lebt heute in Tscherkass­y.

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