Inga Dreyer Wohnprojekt für Schwule und Heteros, Alt und Jung
Der »Lebensort Vielfalt« in Berlin-Charlottenburg ist ein Mehrgenerationenhaus für ältere Schwule, jüngere Männer und Frauen sowie Pflegebedürftige.
Zwischen den Häuserfronten in der ruhigen Niebuhrstraße nahe des Berliner S-Bahnhofs Charlottenburg steht ein großes, aber dezentes Gebäude mit hellrosafarbener Fassade. Hinter den grauen Lettern »Lebensort Vielfalt«, die über dem Eingang prangen, verbirgt sich eine Haus gewordene Vision vom gemeinsamen Leben und Altern.
Einer, dessen Träume hier verwirklicht wurden, ist Bernd Gaiser. Der 73-Jährige lädt mit seinem Nachbarn Klaus Becker zum Kaffee in seine Maisonettewohnung, die mit schwarzen und weißen Möbeln, Blumen, Bildern, Büchern und Bildbänden gleichzeitig sehr modern und dennoch heimelig wirkt. Gaiser lebt hier nicht nur seit 2012 – er hat die Idee des Mehrgenerationenhauses mit entwickelt.
Auslöser war ein Einschnitt in seinem Leben: 2003 ging der Buchladen pleite, in dem arbeitete. Gaiser verlor seinen Job. »Das war für mich ein Anlass, mich sozial zu engagieren«, erzählt er, nachdem er weiße Kaffeetassen auf den schwarzen Tisch gestellt hat. Er begann damals, mit dem »Mobilen Salon« der Schwulenberatung ältere Homosexuelle in Seniorenheimen zu besuchen. Dort berichteten ihm die Männer von den Schwierigkeiten, innerhalb der Einrichtungen offen über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen. »Die meisten hatten Angst davor, öffentlich zu machen, dass sie schwul sind«, erzählt Gaiser. Diese Generation habe ihr Leben im Schatten des Paragraphen 175 verbracht, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. »Sie waren davon so traumatisiert, dass sie dem Versteckspiel gar nicht mehr entkamen. Das war sehr traurig.«
Auch fünfzehn Jahre später seien die wenigsten Einrichtungen auf die Bedürfnisse von LSBTIQ, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen sowie Queerpersonen, eingestellt. Bernd Gaiser berichtet von einer Einrichtung für Demenzkranke in Berlin, in der sich zwei ältere Frauen verliebten und beieinander im Bett schlafen wollten. Für das Haus sei das sehr schwierig gewesen. »Obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist«, sagt Gaiser, den man sich mit seinem dün- nen Wollpulli, seinem fast kahlen Schädel und der runden Brille sehr gut als Buchhändler vorstellen kann. Wenn er erzählt, hat er etwas Sanftes, Kluges und Humorvolles.
Ausgehend von Erfahrungen der Isolierung, Diskriminierung und Ausgrenzung von älteren Homosexuellen gründete die Schwulenberatung 2003 das »Netzwerk Anders Altern«, das sich mit der Situation von älteren Homo- und Bisexuellen beschäftigt. In einem wöchentlichen Gesprächskreis kam die Idee eines »schwulen Altersheimes« auf, das sich im Laufe der Zeit zu einem Mehrgenerationenprojekt entwickelte. »Weil wir gemerkt haben, dass es langweilig ist – nur mit alten Zauseln«, sagt Bernd Gaiser und lacht. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen brüteten damals über der Frage, wie sie gemeinsam leben möchten. Eine große Frage mit vielen Antworten. »Wir haben da die kühnsten Vorstellungen gehabt«, erzählt Gaiser. Gartengruppe, Kochgruppe, Kino- und Konzertbesuche – tatsächlich gibt es gemeinsame Aktivitäten, aber längst nicht so viele wie in den anfänglichen Visionen. »In dem Moment, wo etwas Wirklichkeit wird, stößt man an Grenzen«, sagt Gaiser und klingt etwas wehmütig. Gaiser und Becker führen die Gäste durch den Flur im fünften Stock, von wo aus der Blick durch die großen Oberlichter über die Dächer Charlottenburgs fällt.
60 Prozent der Bewohner des 2012 eröffneten »Lebensorts Vielfalt« sind schwule Männer über 55, 20 Prozent jüngere Männer und 20 Prozent Frauen. Eine Bewohnerin sei kürzlich hingefallen und liege im Krankenhaus, erzählt Gaiser. Die Nachbarn springen ein, bringen ihr Anziehsachen und kaufen ein. »Wenn man Hilfe braucht, dann bekommt man sie«, betont Gaiser.
Es geht hinunter ins Erdgeschoss, ein kurzer Blick in den Gemeinschaftsraum und ins Foyer, wo sich Besucher der Schwulenberatung anmelden können. Dann führt Bernd Gaiser zu einem der Orte, um die er sich besonders intensiv kümmert: die Bibliothek, wo 5000 Titel zu queeren Themen in hohen Regalen stehen. Auch Gäste können Bücher ausleihen, einmal im Monat nutzt ein schwuler literarischer Salon die Bibliothek für seine Treffen.
Über den Regalen hängen auf Holz gemalte, ineinander verschlungene Körper – Werke von Klaus Becker. Der 74-jährige Künstler und ehemalige Frauenarzt wohnt seit dreieinhalb Jahren im Haus. Früher habe er eine Wohnung in Zehlendorf gehabt – und sich dann auf die Warteliste des »Lebensorts Vielfalt« setzen lassen. »Ich hatte damit gerechnet, dass das vielleicht in zehn Jahren klappt«, erzählt er lächelnd. Dann ging alles schneller. Wie alle Interessentinnen und Interessenten stellte er sich bei der monatlichen Mieterversammlung vor – und wurde genommen. »Vor 20 Jahren hätte ich das nicht gekonnt«, sagt er über das Leben in der Hausgemeinschaft. Heute wolle er nicht mehr weg. »Ich ziehe hier nur noch mit den Füßen voran aus.«
Bis ins hohe Alter im Haus bleiben zu können, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Schließlich gibt es im zweiten Stock eine Wohngemeinschaft für acht schwule Männer mit Pflegebedarf oder Demenzerkrankung. Gaiser klopft an die Tür. Ob wir mal kurz reinkommen dürften? Wir dürfen. Eine offene Küche, warme Farben, bunte Bilder und ein großer Esstisch – hier sieht es tatsächlich nach WG-Leben aus. Ein Mann durchquert den Raum in einem elektrischen Rollstuhl, an dem eine Regenbogen-Fahne flattert.
Alter schützt vor Aktivismus nicht – und auch nicht vor kreativen Ideen, Lebensfreude, Liebe und Sexualität. Regelmäßig veranstaltet die Schwulenberatung das Kostümspektakel »Gay not Grey«. Einmal habe Klaus Becker im Garten die Körper zweier Männer bemalt und so in Dalmatiner verwandelt, berichtet Gaiser. Beim Spaziergang durch Charlottenburg hätten die Passantinnen und Passanten so getan, als sei es das Normalste der Welt, erzählt er schmunzelnd.
Der Garten ist einer seiner liebsten Orte – besonders, wenn dort an Sommerabenden Tangoklänge aus dem »Wilde Oscar«, dem hauseigenen Veranstaltungslokal, zu hören sind. Allein im Grünen, während nebenan das Leben tobt: Bernd Gaiser mag das. Das geht nicht jedem so. Auch am »Lebensort Vielfalt« fühlen sich Nachbarinnen und Nachbarn manchmal gestört, wenn es zu ausgelassen wird.
Die Frage, wie Leben in Gemeinschaft – und Leben im Alter – aussehen soll, bereitet vielen Menschen Kopfzerbrechen, gerade in Städten wie Berlin, wo viele Alleinstehende leben. Entsprechend groß ist das Interesse am »Lebensort Vielfalt«. Ursprünglich wurde das Haus in den 1930er-Jahren als Polizeistation gebaut und zuletzt als Kita genutzt. Sechs Millionen Euro – unter anderem von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin, der Stiftung Deutsches Hilfswerk sowie aus Krediten und Erlösen von Spendengalas – hat die Schwulenberatung hier investiert.
Die Schwulenberatung Berlin hat bereits am Ostkreuz ein weiteres, kleineres Haus eröffnet. Ein größeres Projekt am Südkreuz ist in Planung. Entstehen soll ein Haus mit knapp 70 Wohnungen für schwule, lesbische und transidente Senioren und Seniorinnen und für jüngere LSBTIQ. Geplant sind eine Pflege-WG, eine Krisenwohnung und eine Kita. Schon jetzt sei die Warteliste lang, berichtet Gaiser. Auch in Paris solle ein ähnlicher Ort entstehen.
Um auch die Aufmerksamkeit anderer Einrichtungen auf die Bedürfnisse älteren Lesben, Schwulen und Transsexuellen zu lenken, vergibt die Schwulenberatung seit 2018 das Qualitätssiegel »Lebensort Vielfalt«. Bisher wurde ein Seniorenzentrum damit ausgezeichnet.
Becker und Gaiser denken weiter als bis ins Alter. Sie haben entschieden, auch nach dem Tod nicht allein sein zu wollen. Als es Klaus Becker vor ein paar Jahren nicht gut ging, begann er sich Gedanken zu machen – und mit Freunden darüber zu reden, was passieren wird, wenn sie sterben. Als schwuler, kinderloser Mann könne man nicht davon ausgehen, dass sich andere Menschen um die Beerdigung kümmerten, erklärt Gaiser. Deswegen haben die beiden in einer Gruppe mit sechs anderen Männern alles vorbereitet. Ihre letzte Ruhe werden sie in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg finden. Mitten in der wuseligen Stadt, zwischen Türkenmarkt und Friedhofsruhe, an einem Ort, wo Leben und Tod einander ganz nah scheinen, dort wollen sie bleiben.
In einem wöchentlichen Gesprächskreis kam die Idee eines »schwulen Altersheimes« auf, das sich im Laufe der Zeit zu einem Mehrgenerationenprojekt entwickelte. »Weil wir gemerkt haben, dass es langweilig ist – nur mit alten Zauseln«, sagt Bernd Gaiser.