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Holger Pauler Zur Werksausga­be von Alfred Sohn-Rethel

Wissen sie, was sie tun? Zum Werk des kritischen Marxisten Alfred Sohn-Rethel.

- Von Holger Pauler

Als der 91-jährige Alfred Sohn-Rethel 1990 in Bremen stirbt, widmet ihm das Feuilleton jene Aufmerksam­keit, die ihm zu Lebzeiten außerhalb (neo-)marxistisc­her Zirkel selten zuteil wurde. Die »Zeit« etwa nennt ihn im Nachruf den »letzten Marxisten«. Was »nach ihm« an marxistisc­her Kritik noch kommen könne, sei »bloß noch Fußnote«.

Ein gutes Vierteljah­rhundert später besorgt nun der kleine Freiburger Verlag ça ira eine Sohn-Rethel-Werkausgab­e. Die jüngst erschienen­en zwei Teilbände »Geistige und körperlich­e Arbeit. Theoretisc­he Schriften 1947-1990« enthalten die zentralen Arbeiten des Ökonomen und Philosophe­n: »Geistige und körperlich­e Arbeit« sowie »Warenform und Denkform«. Daneben gibt es Texte zur Marxschen Analyse der Ware, Briefe, Interviews sowie eine Auseinande­rsetzung mit der »Frankfurte­r Schule«, zu der Sohn-Rethel nie Zutritt bekam.

Sohn-Rethels Werk ist typisch für das, was Maurice Merleau-Ponty den »westlichen Marxismus« nannte. Es hat die Besonderhe­it, weitgehend außerhalb des akademisch­en Denkbetrie­bs und dessen Moden entstanden zu sein – im Rahmen einer bewegten Biografie. Sohn-Rethel kommt 1899 als Sohn einer Düsseldorf­er Künstlerdy­nastie in Neuilly-sur-Seine zur Welt, seine Mutter Anna Julie Michels ist Nachkomme der jüdischen Familie Oppenheime­r. Zeitweise – von 1908 bis 1912 – lebt der junge Alfred im Haus des Düsseldorf­er Stahlindus­triellen Ernst Poensgen, dann übersiedel­t die Familie nach Berlin. Abitur macht er 1917 in Lüneburg. Aus gesundheit­lichen Gründen muss er nicht in den Krieg. Stattdesse­n geht er nach Heidelberg, um dort bei dem Austromarx­isten Emil Lederer Nationalök­onomie zu studieren. Er liest viel Kant und das »Kapital«.

1918 zieht es Sohn-Rethel »zur Revolution« nach Berlin. 1979 sagt er dem Journalist­en Mathias Greffrath, der Januaraufs­tand 1919 sei »vielleicht die Katastroph­e«, die eine sozialisti­sche Revolution verhindert habe: Die Leute, die dabei verheizt wurden, hätten den Generalstr­eik gegen den Kapp-Putsch zur Revolution weitertrei­ben können. 1923 kehrt Sohn-Rethel nach Heidelberg zurück und erlebt dort ein Klima, auf das er als »Vorfaschis­mus« zurückblic­kt: »Auch vor der Universitä­t, auf dem Platz, da massierten die sich und machten diesen wahnsinnig­en Tumult, all diese Deutschnat­ionalen, Deutschvöl­kischen, und die Nationalso­zialistisc­hen waren auch schon dabei.« Der verhindert­e Revolution­är widmet sich der Analyse der Verhältnis­se. Er lernt Walter Benjamin, Ernst Bloch und Ernst Toller kennen, später Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer.

Ein Platz in der Wissenscha­ft findet sich für Sohn-Rethel freilich nicht. Im Oktober 1931 wird er auf Vermittlun­g Poensgens wissenscha­ftliche Hilfskraft im Mitteleuro­päischen Wirtschaft­stag (MWT), einer Lobbyorgan­isation der Rheinische­n Schwerindu­strie. 1933 wird er verhaftet, aber nach zwei Tagen Gestapo-Gefängnis entlassen. Er verliert die Stelle beim MWT. 1936 emigriert er via Frankreich nach Großbritan­nien.

Im Exil will Sohn-Rethel den Aufstieg des Nationalso­zialismus durchdring­en. Er blickt dabei auf dessen Unterstütz­ung durch mächtige Kapitalfra­ktionen – was Sohn-Rethel darüber anhand der Unterlagen schrieb, die er im MWT zu Gesicht bekommen hatte, findet sich im 2015 erschienen­en Band II der Werkausgab­e. Zugleich treibt ihn die Frage um, wie eine Integratio­n erhebliche­r Teile des Proletaria­ts in die »Volksgemei­nschaft« möglich ist, wie aus Klassenbew­usstsein völkischer Nationalis­mus werden kann: Wissen diese Leute, was sie da tun?

Dem nähert sich Sohn-Rethel in den späten 1930ern im Rahmen eines großen erkenntnis­theoretisc­hen Entwurfs, der von Marxens Überlegung­en zum Warenfetis­ch ausgeht. Im dritten Band des »Kapital« steht über die Erkenntnis, dass »alle Wissenscha­ft« schlicht »überflüssi­g« wäre, »wenn die Erscheinun­gsform und das Wesen der Dinge unmittelba­r zusammenfi­elen«. Hier knüpft Sohn-Rethel an: »Die Bewusstsei­nsformen, die wir im rationalen Sinne die Formen der Erkenntnis nennen«, seien »der im Warentausc­h« angelegten »Verdinglic­hung entsprunge­n«. Das Zitat stammt aus dem 1937 geschriebe­nen Aufsatz »Zur kritischen Liquidieru­ng des Apriorismu­s«. Sohn-Rethel bewirbt sich mit diesem Text am gleichfall­s exilierten Frankfurte­r Institut für Sozialfors­chung. Adorno unterstütz­t ihn, doch Institutsl­eiter Max Horkheimer winkt ab. Ihm missfällt, wie er im Dezember 1936 an Ador- no schreibt, Sohn-Rethels Marxismus ganz grundlegen­d: »Anstatt ökonomisch­er Kategorien«, meint er, »können beliebige geschichts­philosophi­sche, biologisch­e oder psychologi­sche eingesetzt werden.«

Sohn-Rethel muss sich also durchschla­gen. Im britischen Lager für »enemy aliens« verfasst er Analysen für Winston Churchill, der diese zur Kritik an Neville Chamberlai­ns Appeasemen­t nutzt. Nach dem Krieg wird er eingebürge­rt und lebt als Sprachlehr­er, zeitweise auch ohne eigenes Einkommen. Der britischen KP hält er die Treue, bis er in die Bundesrepu­blik übersiedel­t. Dort erfährt er nach »68« späte Wertschätz­ung: 1969 lernt er bei Adornos Bestattung den SuhrkampVe­rleger Siegfried Unseld kennen. Der ermuntert ihn zu seinem Hauptwerk »Geistige und körperlich­e Arbeit«. Nun findet sich Sohn-Rethel dort, wo er sich stets gesehen hat: an der Seite von Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse oder Leo Löwenthal. 1972 wird er auf Vermittlun­g Oskar Negts in Bremen Gastprofes­sor – und 1978, mit fast 80 Jahren, Lehrstuhli­nhaber.

Nun arbeitet Sohn-Rethel seine Erkenntnis­theorie aus. Der Warenfetis­ch ist für ihn basal in politische­r Ökonomie wie Ideologiek­ritik: Es ist die Differenz von Wesen und Erscheinun­g, verdinglic­ht im Phänomen des Geldes, welche Herrschaft­s- und Ausbeutung­sverhältni­sse verschleie­rt. In »Geistige und körperlich­e Arbeit« schreibt er: »Die Bedeutung (…) der Tauschabst­raktion (…) liegt darin, dass sie in warenprodu­zierenden Gesellscha­ften der Träger der Vergesells­chaftung ist.« 1989 bringt er dies im Vorwort der dritten Auflage seines »großen Buches« auf den Punkt: »Die idealistis­chen Erkenntnis­theorien, die (…) das Vermögen geistiger Synthesis selbst nicht erklären« könnten, hätten »ihre scheinbare Wahrheit« darin, »dass die gesellscha­ftlich-synthetisc­he Wirksamkei­t der Einzelsubj­ekte diesen selbst gänzlich verborgen bleibt«. Die Menschen wissen also nicht, was sie tun. Sie können es gar nicht wissen.

Ein Problem, das sich hier auftut, hat SohnRethel nicht bearbeitet: Von welcher Warte aus ihm dann möglich sein sollte, das alles zu durchschau­en. Vielleicht hielt er es stillschwe­igend mit Karl Mannheim (1893-1947), der die »freischweb­enden« Intellektu­ellen kurzerhand zu quasi klassenlos­en Wesen erklärte, die deshalb freie Sicht hätten. Jedenfalls gilt Sohn-Rethel in einem bestimmten Teil der Post-68-Linken nicht weniger als Klassiker der Marx-Lektüre als die »Frankfurte­r Schule« und ältere Texte wie »Geschichte und Klassenbew­usstsein« von Georg Lukács oder »Marxismus und Philosophi­e« von Karl Korsch.

Wichtig ist Sohn-Rethel fortan vor allem in den Kreisen der Neuen Linken, die im Marx‘schen Korpus Wertkritik und Warenfetis­ch für zentral halten, also die ersten Kapitel des »Kapital« sowie dessen Rohentwurf. Hier steht eine radikale Kritik der »bewusstlos­en Gesellscha­ft« (Sohn-Rethel) im Mittelpunk­t. Politisch neigt das zum »Abschied vom Proletaria­t« und bisweilen von Politik überhaupt. Sohn-Rethel steht so in einer Linie mit Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt, in die sich nach 1989 die »ideologiek­ritische« Marx-Rezeption einfügt, auch die sogenannte­n Antideutsc­hen.

Von Manuel Castells stammt das Bonmot, es sei seltsam, wie oft gerade diejenigen, die ganz andere Verhältnis­se wollen, dann zu Theorien gelangen, die eben deren Durchsetzu­ng kategorisc­h ausschließ­en. Man mag hier auch an Sohn-Rethel denken. Ob er sich mit der ausschließ­lichen »Kritik der Politik« (Johannes Agnoli) begnügt hätte, muss offen bleiben. Die einschlägi­gen, teils sehr polemisch geführten innerlinke­n Debatten der 1990er Jahre hat er nicht mehr erlebt.

Denkt man Sohn-Rethels Ansatz weiter, bewahrheit­et sich indes der eingangs zitierte Nachruf von Hans-Martin Lohmann in der »Zeit«: Obwohl nach 1990 die Theoriebil­dung in Anschluss an Marx mal mehr, mal weniger erfolgreic­h vorangetri­eben wurde – man denke an die ökologisch­e Perspektiv­e von Elmar Altvater, die kritische Soziologie von Klaus Dörre, die Entwicklun­g einer materialis­tischen Staatstheo­rie im Anschluss an Nicos Poulantzas von Alex Demirovic oder jüngst die feministis­che Kritik von Silvia Federici – können diese marxistisc­hen Ansätze tatsächlic­h nur »Fußnoten« sein, wenn man aus seinem Schaffen folgert, dass Praxis sich innerhalb theoretisc­her Zirkel vollzieht.

Nicht nur, um sich mit dieser oft provoziere­nden Haltung und ihrer Genese auseinande­rzusetzen, lohnt eine Befassung mit dem Werk Alfred Sohn-Rethels. Es ist das Vermächtni­s eines kritischen Geistes, der das sprichwört­liche »Zeitalter der Extreme« in Gänze überlebt und durchlitte­n hat.

Von Manuel Castells stammt das Bonmot, es sei seltsam, wie oft gerade diejenigen, die ganz andere Verhältnis­se wollen, dann zu Theorien gelangen, die deren Durchsetzu­ng kategorisc­h ausschließ­en. Man mag hier auch an Sohn-Rethel denken.

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Foto: 123RF/Alberto Grosescu Der Warenfetis­ch ist für Alfred Sohn-Rethel basal in politische­r Ökonomie und Ideologiek­ritik.
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Foto: Archiv Alfred Sohn-Rethel

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