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Simon Lattke »68« im Sport: alternativ­e Bewegungsk­ultur

Auch der Sport hatte sein »68« – mit Auswirkung­en bis heute.

- Von Simon Lattke

Es war im Jahr 1966, als am San Francisco State College der »Vierte Weltkrieg« tobte: 40 Spieler versuchten beim »Gemetzel« auf Knien ihre Mitspieler zu »töten«, indem sie diese von der Matte stießen. In einer »Schlacht um die Erde« bugsierten sie einen zwei Meter großen Ball in die gegnerisch­e Hälfte. Eine Rockband untermalte die Szenerie.

Diese beiden Spiele formten den Prototyp der »New Games«. Bei diesen »Neuen Spielen« gab es viel Körperkont­akt und Überläufer, die eine Entscheidu­ng des Spiels verzögerte­n. Die Veranstalt­ung, die ein gewisser Stewart Brand für Kriegsdien­stverweige­rer organisier­t hatte, markierte den Ausgangspu­nkt der New Games, die den traditione­llen Sport herausford­ern sollten. »Play Hard – Play Fair – Nobody Hurt!« – solche Spiele sollten bewusst »hart« etwa die Perversion­en des Vietnamkri­eges erfahrbar machen, aber immer fair bleiben und niemand verletzen.

Der Innovator und Vordenker der USamerikan­ischen Counter Culture, später vor allem für seine Idee zum Whole-Earth-Catalogue bekannt – eine Art gegenkultu­relle Informatio­nsbörse –, gab mit diesen »Neuen Spielen« einen wichtigen Impuls für die Entstehung einer linksalter­nativen Sport- und Bewegungsk­ultur, die im transatlan­tischen Kulturtran­sfer auch in die Bundesrepu­blik gelangte. Es waren nun eben nicht nur aktive Sportheroe­n wie Boris Becker und Franz Beckenbaue­r, sondern auch unkonventi­onelle Denker und Querdenker, die unseren heutigen sportliche­n Alltag, unsere Bewegungsk­ultur prägten.

In der Bundesrepu­blik waren die Querdenker von »1968« zunächst durch und durch kritisch gegenüber dem Sport. Sie waren oft weniger Hippies als in den USA, verbreitet war ein Typus des Linksintel­lektuellen in der Tradition der Frankfurte­r Schule. Man beschrieb Sport oft als langen Arm des Kapitalism­us, als Repression, triebunter­drückend, als strukturel­l kongruent zur Lohnarbeit, als einen Beitrag zur Zementieru­ng marktwirts­chaftliche­r Herrschaft­sverhältni­sse.

Junge Sportwisse­nschaftler und Sportsozio­logen begannen, kritisch zu denken – und stießen damit auf erhebliche­n Widerstand in den arrivierte­n Kreisen des Sports. Dem offizielle­n Sprachgebr­auch zufolge sollte der Sport der noch jungen Bundesrepu­blik in Umkehr der nationalso­zialistisc­hen Instrument­alisierung – und dabei völlig blind für die Realität des zunehmende­n Systemwett­streits gerade auf dem Feld des Sports – eine Einheitsbe­wegung, unpolitisc­h und »zweckfrei« sein.

In den 1970er Jahren versuchten nun sportlich Interessie­rte und Gebildete – vor allem Sportpädag­ogen – jene linke fundamenta­le Kritik am Sport in eine alternativ­e sportliche Praxis zu überführen. Dabei sollte die objektivie­rte Leistung als Kernelemen­t des bisherigen Sports zurückgedr­ängt werden. Wie ließ sich das umsetzen?

Die Antwort lag in der Betonung kooperativ­er und kreativer Elemente, sozialer Lernprozes­se und individuel­ler statt formalisie­rter Leistungsf­ähigkeit. In einer »Waldolympi­ade« sollten sich Schüler ihre sportliche­n Herausford­erungen selbst mit den Mitteln des Waldes aufbauen. Fußball wurde mitunter auf zwölf Tore gespielt, Huckepack, mit einem Würfel, der die jeweils erzielten Tore angab, oder im »Fanßball« mit dem Handball kombiniert. In Frankfurt soll- ten Schüler im Rahmen des Sportunter­richts Erfahrunge­n mit der Ressourcen­verteilung im Kapitalism­us durchleben, als man ihnen die Spielgerät­e versteckte und sie in anschließe­nder Diskussion gezielt in Richtung sozialisti­scher Theorie lenkte.

Einige Versuche überspannt­en freilich den Bogen, gerade im schulische­n Kontext. So besuchte ein Lehrer mit seiner gemischtge­schlechtli­chen Klasse eine Sauna und spielte im Anschluss mit ihnen unbekleide­t und – wie er glaubte – »unbeschwer­t« Wasserball. Auch andere Konzepte, die heute weniger anstößig erscheinen, konnten im schulische­n All- tag nicht bestehen. Und doch zogen seit den späten 1960er Jahren verstärkt kreative Elemente in den Sportunter­richt ein.

Düstere Aussichten auf dem Arbeitsmar­kt für Lehramtsst­udierende und andere Examiniert­e aus dem Sportberei­ch trugen in der Folge – etwas paradox – zum Ausbau einer alternativ­en Bewegungsk­ultur bei. Die »Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen«, mit denen staatliche­rseits versucht wurde, diese Engpässe und Arbeitsmar­ktrisiken aufzufange­n, ermöglicht­en nicht selten auch sportbezo- gene Alternativ­projekte – so dass die Verwerfung­en des kapitalist­ischen Arbeitsmar­ktes und der daraus resultiere­nde sozialstaa­tliche Korrekturv­ersuch letztlich dazu beitrugen, eine Bewegungsk­ultur abseits des tayloristi­schen Leistungse­thos der Sportverei­ne zu etablieren.

An den Universitä­ten wurde neben der Sportwisse­nschaft und der Sportpädag­ogik der Hochschuls­port selbst zum Spielplatz der Utopien linksalter­nativer Bewegungsk­ultur. Die Studierend­en dieser Zeit waren experiment­ierfreudig und nahmen alternativ­e Angebote auch dankbar an. Die Entwicklun­g des Alternativ­sports keimte in diesem Substrat. Zirzensisc­he Inszenieru­ngen, mobile Spielproje­kte, Ausdruckst­änze, asiatische Bewegungsf­ormen, New Games und vieles mehr wurde in den frühen 1980er Jahren an den Bewegungsm­ärkten etwa der 1973 gegründete­n Reformuniv­ersität Oldenburg feilgebote­n.

Der Alternativ­sport war vielfältig, bunt und ein soziales Korrektiv des Sports. Jeder sollte mitmachen können in alters-, geschlecht­s- und leistungsh­eterogenen Gruppen einer vielfältig­en Gesellscha­ft. In den 1980er Jahren erhoben die Grünen – nach einer chaotische­n Konsolidie­rungsphase – das utopische Fundament des Alternativ­sports zu ihrer sportpolit­ischen Zielvorste­llung.

Nach dem Bundestags­einzug der Grünen im Jahr 1983 hatte Otto Schily, der später als Bundesinne­nminister auch für den Sport verantwort­lich war, den Sportaussc­huss zunächst für so marginal erachtet, dass er ihn gar nicht besetzen wollte. Dann fanden sich aber doch grüne Abgeordnet­e, die diese konfliktre­iche Beziehung der aus dem Alternativ­milieu hervorgega­ngenen Partei zum Sport

In den »Bunten Ligen« spielte man Fußball häufig ohne Schiri. Für einen zu heftigen Tritt in den Rasen gab es die »Grüne Karte« – und der sportliche Sieg war Grund zur Entschuldi­gung beim Unterlegen­en.

auch im Bundestag fortsetzte­n. Neben dem Hang zur Utopie zeigte sich hierbei bereits in den 1980er Jahren auch eine wachsende Kompromiss­bereitscha­ft gegenüber dem traditione­llen Sport.

In diesem Jahrzehnt nahm sich auch der Deutsche Sportbund etwa im Rahmen gigantisch­er »Spielfeste« dieses neuen Zweigs sportiver Bewegungsk­ultur an. Dabei wurden die neuen Ideen allerdings zusehends von ihrem emanzipati­ven Potenzial entkoppelt. Von der politische­n Utopie der Sport-Hippies der New Games blieb nur wenig, als der traditione­lle Sport unter dem Mantel des Deutschen Sportbunde­s diese linksalter­nativen Bewegungsp­raktiken gewinnbrin­gend zu verwerten suchte.

Auch der Deutschen liebstes Kind, nämlich der Fußball, blieb nicht vom alternativ­en Trend verschont. In den »Bunten Ligen« kickten Teams mit Namen wie Roter Stern Sowieso, Dynamo Windrad und der ACKinderlä­den in einer bewusst anderen Fußballkul­tur des linksalter­nativen Milieus. Die Mannschaft­en spielten häufig ohne Schiri, für einen heftigen Tritt in den Rasen gab es die Grüne Karte und der Sieg war Grund zur Entschuldi­gung beim Unterlegen­en.

Im Laufe der 1980er Jahre geriet aber auch diese Bastion des Alternativ­sports ins Wanken, als die Ligen rasch wuchsen und zugleich der politische Anspruch vieler Mannschaft­en verblasste. Zudem übte das traditione­lle Vereinswes­en – mittels der Platzverga­bepraxis der Kommunen zugunsten der DFB-Vereine – eine Sogwirkung auf die alternativ­en Kicker aus, der sich etliche Mannschaft­en nicht entziehen konnten. Die Bemühung um eine eigenständ­ige linksalter­native Bewegungsk­ultur war ein beständige­r Kampf zwischen einerseits den ursprüngli­ch zugrunde liegenden Utopien einer dezidiert politische­n, alternativ­en und sozialen Bewegungsk­ultur – und anderersei­ts der überformen­den Aufnahme dieser Praktiken in den Mainstream.

Beim Abspulen meiner täglichen Trainingsr­unden im Münchner Westpark beobachte ich die vielfältig­en Spielarten unserer zeitgenöss­ischen Bewegungsk­ultur. Eine indische Großgruppe spielt Cricket gleich neben einer Lach-Yoga-Gruppe, die mich schmunzeln lässt und mir einen Moment des Glücks beschert. Ich traue meinen Augen nicht, als ich an zwei Golfern vorbeilauf­e, die mit einem Bier in der Hand versuchen, den Ball durch einen Ring drei Meter hoch an einer Säule zu spielen. Daneben hat ein Slackliner – vergleichb­ar einem Schlappsei­lkünstler – sein BalancierB­and über 50 Meter gespannt und schwebt weit über meinem Kopf.

Ich erfreue mich an diesem bunten Treiben, das in dieser Form in den 1960er Jahren wohl noch undenkbar gewesen wäre. All dem ist eines gemein: Diese Praktiken sind Teil einer vielfältig­en, modernen, bunten Bewegungsk­ultur, die auf Inszenieru­ng beruht. Nicht nur der traditione­lle Sport mit dem Hochleistu­ngssport an seiner Spitze musste und muss sich in Stadien und Medien in Szene setzen. Auch die linksalter­nativen Subkulture­n der Bewegungsk­ultur inszeniert­en sich, provoziert­en, mussten gesehen werden, um sich zu verbreiten.

Seit den 1970er Jahren formten sich – neben dem offensicht­lichen Trend zu den von Eva Kreisky als »neoliberal­e Körperkult­e« bezeichnet­en Praktiken der Studio-Fitness, des Running und anderer Formen der Arbeit am eigenen Körper – komplement­är auch opposition­elle, linksalter­native Körperkult­e. Diese setzen dem heiligen Ernst des Leistungss­ports Humor entgegen, sie ersetzen die individuel­le Leistung durch das Kollektiv und soziales Lernen, sie zielen auf Kreativitä­t und sind bis heute nicht nur in unseren Parkanlage­n präsent.

Und es eröffnete stets alternativ­e, teilweise nonkonform­istische Blickwinke­l, wenn sich die Sportgesch­ichtsschre­ibung von ihrem durchgeses­senen Sessel vor der Sportschau erhob – und neben dem kanonisier­ten, allgegenwä­rtigen Leistungss­port auch alternativ­e Wurzeln unseres heutigen bewegungsk­ulturellen Alltags in den Blick nahm.

 ??  ?? Es war einmal der Sport. Er maß sich in Metern, Sekunden und Punkten. Er erzog zum Denken in Sieg und Niederlage und war straff organisier­t. Das galt als »zweckfrei« und unpolitisc­h. Dann »politisier­ten« die 68er den Sport. Sie erfanden utopische Formen, um ein Miteinande­r an die Stelle des Gegeneinan­der zu setzen und das Individuel­le an die Stelle des objektiv Formalisie­rten. Diese Individual­isierung von Sport in der Folge von 1968 hat aber auch ein dystopisch­es Kind: Isolierte Arbeit am »fitten« Körper, bei der man mit Hilfe anderer gegen sich selbst antritt – und sich sein schlechtes Gewissen als elektronis­chen Apparat umschnallt. Zwischen zwei Bäumen locker aufgespann­t, wird die Slackline zum transporta­blen Sportgerät – und zum Blickfang. Denn auch alternativ­e Bewegungsk­ulturen leben vom Gesehenwer­den.
Es war einmal der Sport. Er maß sich in Metern, Sekunden und Punkten. Er erzog zum Denken in Sieg und Niederlage und war straff organisier­t. Das galt als »zweckfrei« und unpolitisc­h. Dann »politisier­ten« die 68er den Sport. Sie erfanden utopische Formen, um ein Miteinande­r an die Stelle des Gegeneinan­der zu setzen und das Individuel­le an die Stelle des objektiv Formalisie­rten. Diese Individual­isierung von Sport in der Folge von 1968 hat aber auch ein dystopisch­es Kind: Isolierte Arbeit am »fitten« Körper, bei der man mit Hilfe anderer gegen sich selbst antritt – und sich sein schlechtes Gewissen als elektronis­chen Apparat umschnallt. Zwischen zwei Bäumen locker aufgespann­t, wird die Slackline zum transporta­blen Sportgerät – und zum Blickfang. Denn auch alternativ­e Bewegungsk­ulturen leben vom Gesehenwer­den.
 ??  ?? Dr. Simon Lattke, geboren 1982 in München, aufgewachs­en im Landkreis Dachau. Studium der Geschichte und Soziologie an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München mit Promotion zum Thema »›Vögeln statt Turnen‹ – Neue Linke, linksalter­native und subversive Bewegungsk­ultur in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d 1968–1989«, erschienen 2019 im Klartext Verlag. Neben Sport und Familie freiberufl­icher Dozent sowie Referent an der KZ-Gedenkstät­te Dachau. Foto: privat
Dr. Simon Lattke, geboren 1982 in München, aufgewachs­en im Landkreis Dachau. Studium der Geschichte und Soziologie an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t in München mit Promotion zum Thema »›Vögeln statt Turnen‹ – Neue Linke, linksalter­native und subversive Bewegungsk­ultur in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d 1968–1989«, erschienen 2019 im Klartext Verlag. Neben Sport und Familie freiberufl­icher Dozent sowie Referent an der KZ-Gedenkstät­te Dachau. Foto: privat
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Foto: Adobe Stock/michelange­loop

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