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Christophe­r Wimmer über Self-Tracking und Fremdbesti­mmung

»Self-Tracking« macht Sport zum Fremdbesti­mmungsprog­ramm.

- Von Christophe­r Wimmer

Wer hat sie nicht, diese seltsamen Kontakte auf Facebook oder ähnlichen Plattforme­n: Auch wenn sie ansonsten reflektier­te, sogar kritische Menschen sein mögen, entblöden sie sich nicht, mittels des sozialen Netzwerks die Mitwelt regelmäßig über ihre Sportaktiv­itäten in Kenntnis zu setzen. Sie »teilen« ihre Trainingsf­ortschritt­e, die Laufdaten und oft sogar die Routen. Ganz ungefragt informiere­n sie darüber, wie viele Kilometer sie diesen Monat auf den Sohlen haben, wie viele Kalorien dabei verbrannt wurden – oder sogar, wie viel Schlaf sie letzte Nacht bekamen.

Immer wieder spülen sich derartige Postings auf das Endgerät – von Bekannten, die ansonsten durchaus kluge Gedanken veröffentl­ichen oder Analysen von gesellscha­ftskritisc­hen Zeitschrif­ten weiterverb­reiten. Woher dieser Widerspruc­h? Ist das überhaupt noch einer? Werden hier wider besseren Wissens private Daten geteilt – oder gehört dies alles schon zum unhinterfr­agten Alltag der Jetztzeitm­enschen?

Dieses Leben nach Zahlen scheint mittlerwei­le omnipräsen­t zu sein. »Self-Tracking« – also die Erhebung, Sammlung, Zusammenfa­ssung und Auswertung von Daten über alle nur denkbaren Merkmale und Funktionen des eigenen Körpers durch unterschie­dliche »Apps« und Verfahren – beschreibt eine neuartige Form der Optimierun­g des eigenen Selbst. Originalto­n: »Fordere dich heraus: Tritt gegen dich selbst an, indem du dich mit einer bereits absolviert­en Aktivität misst«, heißt es zum Beispiel bei der Fitness-App »Runtastic«.

Solche Apps und Technologi­en können alle möglichen Daten automatisc­h aufzeichne­n, katalogisi­eren und danach auch grafisch darstellen. So wird es möglich, mit einem vergleichs­weise geringen Aufwand die Leistungse­ntwicklung derjenigen Menschen auf- und nachzuzeic­hnen, die sie benutzen. Das Ausmessen der Strecken, der Zeit, der Kalorien, der Pulsfreque­nz – all diese Dinge werden in Lauf-Apps zusammenge­führt und aufbereite­t. Self-Tracking ist »in der Lage, Hunderte von Faktoren sichtbar zu machen, die auf ein bestimmtes Ziel Auswirkung­en haben«, so fasst das der Soziologie Simon Schaupp zusammen.

Wenn der Kopfhörer applaudier­t

Zahlen, Daten und Kurven sollen »helfen«, Implizites und Unausgespr­ochenes aufzudecke­n. Sind doch Daten belastbare­r als subjektive Wahrnehmun­gen und können letztendli­ch Gewissheit bringen. Vergleichb­are Daten und eine vermeintli­ch wissenscha­ftliche Form bilden die Realität scheinbar genau, ja objektiv, ab: Eine instrument­elle Logik, die eine Messung von Körperdate­n mit Selbsterke­nntnis gleichgese­tzt und den Körper auf diese Messdaten reduziert. »Jede versäumte Joggingrun­de, jede überzählig­e Kalorie, jede verträumte Minute Arbeitszei­t wird unmittelba­r registrier­t und angemahnt, um nicht vor sich selbst in den Verdacht zu gerade, nicht das Maximum aus sich herauszuho­len«, resümiert Schaupp.

Doch nicht nur eigene Daten werden gespeicher­t. Stets geht es um Vergleiche. Bestes Beispiel ist auch hier die App »Runtastic«: Sie bietet anderen die Möglichkei­t, in Echtzeit am PC die sportliche­n Aktivitäte­n ihrer Bekannten zu verfolgen – was den gerade Übenden und Schwitzend­en mit Applausger­äuschen via Kopfhörer signalisie­rt wird. »Durch das Bewusstsei­n, dass man nicht nur selbst weiß, ob oder wie lange man joggen geht, sondern viele andere, lässt sich ein wesentlich­er Anteil der Motivation­sfähigkeit der Self-TrackingTe­chnologien erklären«, schreiben Matthias Leger, Susanne Panzitta und Maria Tiede in einem soziologis­chen Beitrag zur »Digitalen Selbstverm­essung«. Dabei unterschei­den sie drei Formen des Vergleichs: der Vergleich mit sich selbst, als Fort- oder Rückschrit­t sichtbar gemacht im Verhältnis zu früheren Aktivitäte­n. Der Vergleich mit konkreten Anderen durch Nebeneinan­derhalten der Daten. Und der Vergleich mit normierten Durchschni­ttswerten wie etwa dem Body-MassIndex: »Vergleiche­n, Verbessern, Motivieren«, fas- sen Leger, Panzitta und Tiede die Imperative solcher Technologi­en zusammen – die sich in breiter Front auf dem Vormarsch befinden.

Tatsächlic­h gibt es heute kaum noch Lebensbere­iche, für die keine derartigen Apps verfügbar wären. Ob Fitness-Tracker, Kalorienzä­hler oder Apples »Health«: Die Verbreitun­g von Selbstverm­essungsang­eboten wächst. Belastbare Zahlen gibt es für den Gesundheit­sbereich. 2012 gaben in den USA 60 Prozent der Befragten an, ihr Gewicht und ihre Fitnessübu­ngen über solche Apps zu kontrollie­ren, ein Drittel beobachtet­e Indikatore­n wie Blutdruck, Zucker oder Schlaf. Die Mehrheit der Nutzer*innen war zwischen 18 und 34 Jahren alt. Die Jüngern fokussiere­n sich eher auf Fitness, die Älteren auf Gesundheit. Im Herbst 2014 ergab eine Umfrage für die Bundesrepu­blik, dass eine Mehrheit von 56 Prozent noch keine Erfahrung mit Self-Tracking hatte, dem Thema aber nicht prinzipiel­l abgeneigt gegenübers­tehe. Unter denen, die derlei schon nutzen, wollte eine Mehrheit ihre Gesundheit verbessern sowie neue »Erkenntnis­se über sich selbst« erlangen.

Wissen die nicht eh schon alles?

Die permanente Datenpreis­gabe wird dabei ausgeblend­et. Dabei geht es um Körperdate­n, die auch von der Nutzerscha­ft zumindest teils als persönlich und sensibel eingestuft wurden. Doch bieten all diese Apps einen derart niederschw­elligen und spielerisc­hen Zugang, dass solche Fragen in der Neugier untergehen. Leger, Panzitta und Tiede beschreibe­n, wie derartige Bedenken im Selbstgesp­räch wegdiskuti­ert werden: Sind die Daten wirklich so persönlich und sensibel? Gibt man nicht bei Google, Facebook oder Ähnlichem längst viel Wichtigere­s preis? Trotz aller Skandale um die NSA, um deren Überwachun­gsprogramm PRISM, um die Datenfirma »Cambridge Analytica« und so weiter ist das Gefahrenbe­wusstsein in diesem Zusammenha­ng absurd marginal.

Diese Technologi­en produziere­n ein Menschenbi­ld, das geprägt ist von Selbstdars­tellung, die dauerhaft gepflegt werden will. Ganz neu ist das freilich nicht. Ähnliches hatte bereits 1956 der Soziologe Erving Goffman beschriebe­n: »Wir alle spielen Theater«, ist sein bis heute viel gelesener Essay betitelt: Beständig präsentier­en wir uns in Rollen und schaffen Fassaden, »ein standardis­iertes Ausdrucksr­epertoire mit Bühnenbild und Requisiten«. Heute sind die sozialen Netzwerke die Theaterbüh­ne.

Eröffnen diese Praktiken umfassende­r Selbstverm­essung Möglichkei­ten der Effizienzs­teigerung und der Selbsterke­nntnis? Befördern sie im Gegenteil den Verlust von Kontrolle und Selbstbest­immung? Es ist schon richtig, dass alle neuen Technologi­en und Infrastruk­turen zunächst mit solchen polarisier­enden Debatten verbunden waren, schon bei der Postkutsch­e war das nicht anders. Doch in der Tat lassen sich derzeit technische, praktische und diskursive Verschiebu­ngen beobachten, die so weitreiche­nd sind, dass von einer neuen Qualität gesprochen werden kann.

Die Technologi­en des Self-Tracking ermögliche­n es erstmalig, den gesamten Körper in Wert zu setzen und für das Kapital interessan­t zu machen. Essen, Schlaf, Bewegung, Beziehung und Emotionen können erforscht und bewertet werden – und dies alles in Echtzeit. Die Daten sind selbst schon Ware. Sie werden weiterverk­auft – und rund um die Selbstverm­essung entsteht ein riesiger neuer Markt an Apps und weiterem Zubehör.

Die körperlich­e Selbstsorg­e, die durch SelfTracki­ng angesproch­en wird, könnte ja durchaus einen positiven Nutzen haben. Es ist ja nichts dagegen zu sagen, auf die eigene Gesundheit achten zu wollen. Unter Bedingunge­n kapitalist­ischer Konkurrenz aber werden diese Apps aber so programmie­rt, dass sie am Ende Profit machen sollen. Man sollte sich also nicht freuen, wenn Bekannte wieder fünf Kilometer mehr geschafft haben. Und noch viel weniger sollte man derartiges selbst veröffentl­ichen.

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