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Kollaborat­ion und Solidaritä­t

Über 12 000 Roma wurden während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen in der Ukraine ermordet.

- Von Frank Brendle

Seit 2012 erinnert ein Denkmal im Berliner Bezirk Mitte an die Ermordung der europäisch­en Sinti und Roma während des Zweiten Weltkriege­s. Doch die europäisch­e Dimension dieses Völkermord­es stellt bis heute kaum mehr als eine Fußnote der Erinnerung­spolitik dar. Auch in Bezug auf die Ukraine ist allenfalls einem kleinen Kreis von Experten bekannt, wie systematis­ch die deutschen Besatzer auf der Jagd nach Roma vorgegange­n waren.

Auf konkrete Zahlen lässt sich Mikhail Tyaglyy, Forscher am Kiewer Zentrum für Holocaustf­orschung, ungern festlegen. »Auf jeden Fall über 12 000«, beziffert er schließlic­h die Zahl der ermordeten Roma, schiebt aber gleich hinterher: Das entspreche dem heutigen Forschungs­stand, und der sei extrem lückenhaft. In akribische­r Kleinstarb­eit, unterstütz­t durch Hunderte Interviewp­artner, hat Tyaglyy bislang über 160 Orte identifizi­ert, an denen Roma erschossen wurden.

Zu den ersten Opfern gehörten die nomadisch lebenden Roma, die automatisc­h als »partisanen­verdächtig« galten. Ein Wehrmachts­befehl vom Herbst 1941 sah vor, »herumziehe­nde Zigeuner dem nächsten Einsatzkom­mando des SD zuzuführen«, also durch den »Sicherheit­sdienst« der SS ermorden zu lassen.

Eine besondere Herausford­erung für die Nazimörder bestand darin, ihre Opfer zu identifizi­eren. Denn die meisten sowjetisch­en Roma waren sesshaft, häufig lebten sie Tür an Tür mit der Mehrheitsb­evölkerung, arbeiteten als Kolchosbau­ern oder kleine Handwerker und waren zumindest für Ortsfremde kaum von der Mehrheit zu unterschei­den.

Als fatal erwiesen sich oft die Aufzeichnu­ngen der letzten sowjetisch­en Volkszählu­ng von 1939. Dabei hatten sich auf dem Gebiet der damaligen Sowjetukra­ine 10 443 Personen als »Zygany« registrier­en lassen. Tyaglyy schätzt, dass diese praktisch alle ermordet wurden. Deutsche und ukrainisch­e Hilfspoliz­isten erschienen am Wohnort, brachten ihre Opfer an den Stadtrand und erschossen sie dort. Das gleiche Schicksal drohte jenen, deren Nationalit­ät in Ausweisdok­umenten oder Geburtsurk­unden mit »Zygan« angegeben war. Von zentraler Bedeutung war zudem das Verhalten lokaler Verwaltung­en auf dem flachen Land. Die Deutschen übermittel­ten den Dorfältest­en, auch Starost genannt, schriftlic­h oder telefonisc­h Fragenkata­loge: Gibt es »Zigeuner«, wo leben sie, was besitzen sie? Allzu oft wurden bei diesen Gelegenhei­ten Roma-Familien denunziert.

Je bekannter und wohlgelitt­ener eine Roma-Familie war, desto größer war aber auch ihre Chance, unterm Radar zu bleiben – ganz besonders, wenn etwa das Familienob­erhaupt als Schmied für die örtlichen Bauern unersetzli­ch war. Es sind aber auch Fälle überliefer­t, bei denen die Staroste aus humanistis­cher Solidaritä­t und/oder gegen Bestechung die Roma im Dorf oder auch dorthin geflohene Roma-Familien, kurzerhand als »Ukrainer« deklariert­en.

Teilweise kopierten die deutschen Besatzer Methoden, die sie schon gegen die örtlichen Juden benutzt hatten: So kündigte der Kommandeur der Sicherheit­spolizei im nordukrain­ischen Tschernihi­w am 10. Juni 1942 die »Umsiedlung« der örtlichen Roma-Bevölkerun­g an. Sämtliche Roma wurden aufgeforde­rt, sich in den örtlichen Polizeiwac­hen registrier­en zu lassen. Wenige Wochen später wurden über 2000 Roma am Stadtrand erschossen. Für Festnahme und Zuführung war meist die ukrainisch­e Hilfspoliz­ei, fürs Erschießen deutsches Personal zuständig.

Mit der Zeit begann es sich unter den ukrainisch­en Roma herumzuspr­echen, dass die Deutschen Jagd auf sie machten. Etliche Roma flohen in die Wälder und schlossen sich Partisanen­verbänden ab.

Die Morde an Roma blieben deren Nachbarn nicht verborgen. Die Berichte der Außerorden­tlichen Staatskomm­ission, die die faschistis­chen Verbrechen untersucht­e, waren noch 1943 und 1944 voll von Beispielen. Dass dieser Völkermord dennoch bald ins Vergessen geriet, lag vor allem an der Tendenz der sowjetisch­en Erinnerung­spolitik, die Opfer als »friedliche Sowjetbürg­er« zu klassifizi­eren und ihren spezifisch­en nationalen Hintergrun­d nicht anzusprech­en.

2004 beschloss das ukrainisch­e Parlament, den 2. August als Tag der Erinnerung an den Roma-Genozid zu begehen. Das findet aber kaum praktische Umsetzung, klagt Tyaglyy. Ohnehin ist die ukrainisch­e Geschichts­politik extrem nationalis­tisch aufgeladen. Die Verwicklun­g der heute als »Freiheitsk­ämpfer« heroisiert­en nationalis­tischen Milizen, wie etwa der UPA, in die Morde an Roma ist nahezu ein Tabuthema. Immerhin erinnert seit vorletztem Jahr ein Denkmal in Babyin Jar bei Kiew an den Völkermord an Roma. Das Wissen über den Völkermord in Museen, Schulbüche­rn und Bildungspr­ogrammen zu verankern, bleibt der Zivilgesel­lschaft überlassen.

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