Unverwertbare Reste
Ost-Geschichte: Der Film »Heimat ist ein Raum aus Zeit«.
Jedes Werk, das entsteht, schöpft aus verborgenen Quellen, nicht selten sind es Lebenswunden. Diese bestimmen dann die Form, in der jemand sich ausdrückt. Bei Thomas Heise (Jahrgang 1955) ist es eine Form des Sammelns von etwas, das vom Tage übrig blieb. Das ist oft bloßes Fragment, mitunter sogar einfach Schutt, unverwertbarer Rest. Aber eben nicht als Fundament, auf dem man dann etwas baut, das sich stolz zum Himmel erhebt. Nein, keine Botschaften, keine höheren Synthesen. Es bleibt am Boden, verweigert sich jeder vereinheitlichenden Ordnung.
Einer der wichtigsten Filme von Thomas Heise, in dem sich Biografisches mit dem Alltag in der DDR wie der Nachwendezeit mischt, heißt darum auch »Material« (2009). Ungeformtes, Ungeschöntes in der empirischen Unstimmigkeit, die ein anderes Wort für Leben ist – und auch für Geschichte?
Wer auf diese Weise Filme macht, die wie ungeschnitten wirken (aber natürlich geschnitten sind, wenn auch dem minimalistischen Selbstverständnis des Regisseurs folgend), der lässt sich Zeit. Und fordert diese auch seinen Zuschauern ab. Mit »Das Haus« (1984) irritierte Heise ebenso wie mit »Volkspolizei« (1985) oder »Vaterland« (2002). Heute gehört seine Methode, Geschichte möglichst absichtslos zu dokumentieren, zu den wenigen Arten, unverfälschte Bilder über die DDR zu liefern.
Auch sein neuer Film »Heimat ist ein Raum aus Zeit«, der im BerlinaleForum läuft, schließt hier an. In gut dreieinhalb Stunden erzählt er seine Familiengeschichte als deutsche Jahrhundertgeschichte, randvoll von Brüchen, Katastrophen, gefährlichen Ideologien und falschen Illusionen. Nein, Utopien kommen bei ihm, der in der DDR-Subkultur sozialisiert wurde, nicht vor. Dass er sich nun mit über sechzig Jahren seiner Familie zuwendet, ist auch ein Exerzitium, ei- ne Art Katharsis. Wie der Weg überhaupt, den Thomas Heise als Regisseur ging.
Aus Widersprüchen und purer Opposition gemacht, ist er doch ein Wahrheitssucher strenger Observanz. Erst am Theater, als Mitarbeiter von Fritz Marquardt am Berliner Ensemble, und dann beim Film (er ist heute Professor in Wien). Er verachtete die DDR, wurde von der Staatssicherheit observiert. Der Stachel seiner Existenz: sein Vater Wolfgang Heise, der Philosoph, ein Hegelianer und Kommunist an der HumboldtUniversität (er starb 1987). Von vielen seiner Schüler verehrt, blieb er dem Sohn fremd.
Pure Abwehr aus erlittener Kränkung? Andere hatten durchaus ein nahes Verhältnis zu Wolfgang Heise; sogar Wolf Biermann, der an wenigen Menschen je etwas Gutes fand, wird über ihn dichten: »Sein Herz blieb stehn aus Rebellion / Er war mein DDR-Voltaire, / Denn er durchschaute immer schon / Auch seine eigene Illusion / Ce qui touche le coeur.«
Wolfgang Heise gehörte zur gleichen Generation wie Christa Wolf oder Heiner Müller, die zur DDR ein Verhältnis aus kritischer Loyalität bewahren wollten, was ihnen am Ende immer weniger gelang. Aber blindwütige Opposition war ihre Sache nicht, das hielten sie für unterreflektiert angesichts der geschichtlichen Tragödien und Verbrechen. Die Staatssicherheit wird über Wolfgang Heises Sohn Thomas festhalten: »Die Kinder traten als Initiatoren jugendlicher Banden in Erscheinung.« So quälen Väter und Söhne einander, wenn beide ihre Erfahrungen mit der Geschichte nicht verleugnen wollen.
Dass sich Thomas Heise dazu entschlossen hat, seine Familiengeschichte über drei Generationen zu erzählen, hat Gründe. Einer davon: Seine Mutter Rosemarie Heise (Herausgeberin Walter Benjamins in der DDR, Voltaire-Übersetzerin und Redakteurin der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur«), die ihm nah war, und sein ferner Bruder starben beide 2014. Plötzlich war er allein, fühlte sich als Übriggebliebener einer komplizierten Geschichte, in die alle Beteiligten verstrickt sind.
Diese Familiengeschichte, die in Wien und Berlin bei den Großeltern beginnt, wollte er erzählen. Aber nicht auf jene Weise, die seine Eltern gutgeheißen hätten, sondern auf seine eigene. Es ist eine Annäherung geworden, die auf Distanzen besteht. Thomas Heises Konsequenz frappiert immer aufs Neue. Nein, er macht es niemandem leicht, seine Filme zu sehen, es sind Hochkonzentrationsräume, Meditationen über ein Thema, das ihn selbst mit einschließt, wenn auch als das, was er immer am liebsten war: eine Randfigur, die nicht mit handelt, sondern beobachtet. In seinen Filmen gibt es keine auftretenden Zeitzeugen, keine Interviews, schon gar keine Spielszenen. Er selbst verliest im Off Tagebücher, Briefe, Dokumente.
Das gesprochene Wort ist der eine Raum, den er hier eröffnet. Der andere sind die sparsam eingesetzten Bilder. Sie dekonstruieren fragwürdige Sinnzusammenhänge, etwa wenn er lange Straßenszenen zeigt (die Schönhauer Allee, vom Balkon seiner Mutter, als sie ins Heim kam, das sie nur drei Wochen überlebte), verlassene Büros, geschlagenes Holz (wenn es um den Wald geht), Industriebrachen. Diese Bilder lasten schwer, wie auch die Worte schwer lasten.
Aber so entsteht auf spröde Weise ein poetischer Raum der Anverwandlung, auch von Umgewichtung der Schuld. Der Vater, der sich als schlechter SED-Parteisoldat erwies und als Dekan der Philosophischen Fakultät abgesetzt wurde, auch weil er nicht bereit war, für den Parteiausschluss von Robert Havemann zu stimmen, trug mehr Wahrheit in sich, als sein rebellierender Sohn, der unter Liebesentzug litt, ihm lange Zeit zubilligen wollte. Aber auch jetzt bleibt der harte Befund des Sohns: Irgendwann, bald nach Kriegsende, habe Wolfgang Heise seine eigene Sprache verloren und eine fremde gesprochen, die den Sohn nicht erreichen konnte. Doch darunter liegt auch das Schweigen, das mehr ist als Unfähigkeit, den Schmerz, die Enttäuschung, den Verlust an Glauben an eine bessere Zukunft aussprechen zu können. In einer Kurklinik trifft der Herzkranke Christa Wolf, die einen psychischen Zusammenbruch erlitten hatte. »Was können wir tun?«, fragt sie ihn. Er, mit versteinerter Miene in die Ferne blickend, habe geantwortet: »Anständig bleiben.«
All das findet sich in diesem filmischen Essay über die Familie Heise, aber immer sehr indirekt erzählt, bis auf wenige Ausnahmen. Thomas Heise hatte Heiner Müller bei einem Bulgarienurlaub kennengelernt und fand in ihm einen geistigen Ersatzvater, einen, der nicht wie Wolfgang Heise in seinem bedeutenden Buch »Hölderlin. Schönheit und Geschichte« aus der hegelianischen Weltgeistperspektive über die Romantik schrieb, sondern selbst tief in die Schatten der Vernunft eintauchte. Müllers Credo wurde schnell das von Thomas Heise: »Der Künstler ist nicht jemand, der die Welt transkribiert – er ist ihr Rivale.«
Kurz vor dem Tod Wolfgang Heises brachte er seinen Vater und Heiner Müller dazu (ein vom Regisseur spät verstandener Liebesdienst von beiden an ihm), sich vor seiner Kamera über Brecht und die Rolle des Intellektuellen angesichts der Geschichte zu unterhalten. Das Gespräch gehört heute zu Müllers Werk und war für beide Diskutanten, die nicht ungleicher hätten sein können, eine einzige Qual.
Beide Seelen, beide geistige Traditionslinien, so denke ich am Schluss von »Heimat ist ein Raum aus Zeit«, wohnen auch in Thomas Heises Brust: schwere Erblast und kostbares Geschenk zugleich.
»Heimat ist ein Raum aus Zeit«, Deutschland 2018. Dokumentation Regie: Thomas Heise. 218 Min.
»Luther erschütterte Deutschland, aber Francis Drake beruhigte es wieder: Er gab uns die Kartoffel.« Heinrich Heine