»Jetzt kann ich mich endlich auf mein Leben konzentrieren«
Nach vier Monaten hat sich das Projekt »Housing first« in Berlin gut entwickelt
Ingrid Bujak ist die glücklichste Frau der Welt. »Ich habe endlich eine eigene Wohnung, jetzt kann ich mich wieder auf mein Leben konzentrieren. Und wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, antworte ich: Ich wohne in Schöneberg.« Wer sie in einer rbbReportage vor wenigen Tagen erlebte, spürte den Stolz in ihrer Stimme. Stolz darauf, sich wieder als ein Mitglied der Gesellschaft zu fühlen. Stolz darauf, nicht mehr abgestempelt zu werden. Stolz darauf, nicht mehr als wohnungslos zu gelten.
Genau das war sie vor ein paar Wochen noch. Zehn Monate lang lebte die 63-Jährige in einem Obdachlosenheim, ehe sie Ende des vergangenen Jahres ihren Mietvertrag unterschreiben konnte. Heute sagt sie über ihr 42 Quadratmeter großes »Reich«: »Die Wohnung ist mein Ein und Alles.«
Ingrid Bujak war die Erste, die über das Modellprojekt »Housing first« (»Wohnen zuerst«) in Berlin eine eigene Wohnung bekam. Als sie im Oktober von dem Projekt hörte, hatte sie sich sofort beworben. Und als sie dann kurz vor Weihnachten erfuhr, dass sie als Erste eine Wohnung erhält, war es das schönste nur vorstellbare Weihnachtsgeschenk.
Nach fünf Jahren Vorbereitungszeit ging »Housing first« im Oktober 2018 in Berlin an den Start. Über drei Jahre läuft das Modellprojekt, bei dem es darum geht, Menschen, die seit Längerem obdach- oder wohnungslos sind, mit einer eigenen Wohnung zu versorgen – und sie auch danach in ihrer neuen Selbstständigkeit zu unterstützen, bis sie ihr Leben wieder aus eigener Kraft meistern können. Insgesamt 1,7 Millionen Euro stellte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales dafür zur Verfügung, die sich auf zwei Projektträger aufsplitten: den Sozialdienst Katholischer Frauen, der sich ausschließlich um Wohnungen für Frauen kümmert, und eine Partnerschaft von Berliner Stadtmission und der gemeinnützigen Neue Chance gGmbH, die sowohl Männer als auch Frauen in ihr Projekt aufnimmt. Ziel ist es, in den drei Jahren, die durch die »Finanzspritze« des Senats abgesichert sind, mindestens 30 Wohnungen für das Frauen- und 40 Wohnungen für das gemischte Projekt zu akquirieren.
Ursprünglich kommt die Idee zu »Housing first« aus den USA, wo sie zu Beginn der 90er Jahre ihren Anfang nahm. In Europa verbreitete sie sich nur zögerlich, inzwischen hat man aber in vielen Ländern gute Erfahrungen damit gemacht – in den Niederlanden, in Österreich, Schweden, Portugal, Frankreich oder Großbritannien. In Deutschland gibt es neben Berlin in Köln und Düsseldorf ähnliche Modellprojekte.
»Das Besondere an ›Housing first‹ ist, dass die Vergabe der Wohnungen nicht an die Erfüllung von Vorbedingungen gebunden ist«, sagt Projektleiter Stefan Laurer von der Berliner Stadtmission. »Zuerst erhalten die Menschen ihre Wohnung und damit ihre Würde und Eigenverantwortung für ihr Leben zurück. Alles andere folgt anschließend, wofür wir ihnen Sozialarbeiter zur Seite stellen, deren Hilfe sie annehmen können, aber nicht müssen. Und noch eines ist wichtig: Den Mietvertrag unterschreiben die künftigen Mieter und niemand anders. Das gibt ihnen auch die Sicherheit, nicht so einfach wieder aus der Wohnung herausgeworfen werden zu können.«
Anfangs, so Laurer, sei es nicht leicht gewesen, Vermieter zu finden. »Wir klapperten die Wohnungsbaugesellschaften ab und erklärten das Projekt. Inzwischen aber haben wir bei einigen landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften gute Erfahrungen gemacht – bei der Gewobag, der Howoge, bei der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land Berlin zum Beispiel. Am 8. Februar konnte auch der erste Vertrag mit der Wohnungsbaugenossenschaft Neukölln abgeschlossen werden.« Insgesamt fünf Mietverträge – von drei Männern und zwei Frauen – sind bereits unterschrieben und die Wohnungen bezogen. Gerade hat die Howoge noch eine Wohnung angeboten und zwei weitere, die derzeit saniert werden, fest zugesagt.
Die Unterzeichnung des Mietvertrages ist aber nur der erste Schritt, wenngleich der wichtigste. Die neuen Mieter werden, so sie wollen, für einen unbefristeten Zeitraum von Sozialarbeitern und ehrenamtlichen Helfern unterstützt – bei der Beschaffung von Möbeln und Hausrat, bei Behördengängen, bei Antragstellungen aller Art. Die meisten, so Laurer, nehmen das Angebot dankbar an. Mindestens einmal in der Woche schauen die Helfer bei den neuen Mietern vorbei. Auch ein ehemaliger Obdachloser gehört zu den Ansprechpartnern der Berliner Stadtmission. »Der Mann weiß nicht nur aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, wieder Fuß zu fassen«, sagt Stefan Laurer, »er hat auch goldene Hände und ein offenes Ohr für die Probleme. Noch arbeitet er ehrenamtlich bei uns, doch ab Juli wird er eine 75Prozent-Stelle bekommen und somit wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen.«
Wenn alles gut geht, werden rund 80 Obdach- bzw. Wohnungslose bis zum Ende des Modellprojektes 2021 durch die beiden Projektträger mit einer eigenen Wohnung versorgt werden. Auch wenn das bei einer geschätzten Zahl von derzeit 4000 bis 6000 Obdachlosen in Berlin nur wie der Tropfen auf dem heißen Stein ist, bedeutet es doch vor allem, dass 80 Menschen eine Chance auf ein neues, menschenwürdiges Leben bekommen. Stefan Laurer, der seit 26 Jahren bei der Berliner Stadtmission arbeitet, ist ein großer Verfechter von »Housing first«. »Seit ich Mitte der 90er Jahre das erste Mal davon hörte, habe ich mich dafür interessiert und war unglaublich froh, als es im vergangenen Jahr nach langer Vorbereitungszeit auch in Berlin Realität wurde.« Er hofft, dass sich »Housing first« nach Auslaufen der Modellphase als reguläres Projekt der Berliner Wohnungslosenhilfe dauerhaft etablieren kann und die Finanzierung durch den Senat auch künftig gesichert ist.
Nicht jeder Obdach- oder Wohnungslose kann in das Projekt aufgenommen werden, sondern nur Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen und somit auch auf Übernahme der Wohnkosten durch das Amt haben. Die Miete darf bis zu 20 Prozent über dem amtlichen Richtwert liegen, das sind zur Zeit 404 Euro Bruttokaltmiete plus Heizkosten. Au- ßerdem wird noch eine Hausrat- und Haftpflichtversicherung bezahlt.
Laut Stefan Laurer stehen zur Zeit zehn Menschen auf der Warteliste des Projekts für eine eigene Wohnung. »Mehr ist im Moment auch nicht möglich, denn unser Anspruch ist es, den Bewerbern möglichst nach vier bis sechs Wochen Wartezeit eine eigene Wohnung vermitteln zu können. Wir wollen keine endlose Liste ohne Perspektive für die Betroffenen.« Während der Wartezeit bekommen die Menschen bereits vorbereitende Hilfe von Sozialarbeitern und Betreuern. Und einmal im Monat sind alle zu einem Frühstück in die Büroräume in der Weichselstraße 8 eingeladen, um sich auszutauschen, über ihre Erfahrungen in der neuen Wohnung zu erzählen oder um Probleme loswerden zu können.
Ingrid Bujak ist inzwischen ein gutes Stück auf dem Weg ins neue Leben vorangekommen. Eingezogen ist sie mit ein paar Tüten, in denen all ihre Habseligkeiten steckten. Inzwischen macht die Wohnung – wie in der rbb-Reportage zu sehen – schon einen sehr gemütlichen Eindruck, wenngleich noch so manches fehlt, beispielsweise ein Kühlschrank. Ingrid Bujak schaut wieder optimistisch in die Zukunft. Und für den Fall aller Fälle hat sie an den Spiegel im Flur ihrer Wohnung einen Zettel geheftet, auf dem in großen Buchstaben zu lesen ist: »Du schaffst es.«
Zuerst erhalten die Menschen ihre Wohnung und damit ihre Würde zurück.