ICE-Halt statt Kohle
Das sächsische Weißwasser hofft, dass der Ausstieg aus der Braunkohle geordneter abläuft als die Zeit nach 1990
Weißwasser hofft auf neue Chancen nach dem Ausstieg aus der Kohle. Am Bahnhof sollen ICEs halten, die Glasschule soll wieder leben.
Das Aus für die Braunkohle trifft die Lausitz hart. Im sächsischen Weißwasser wecken die Versprechen der Kohlekommission aber auch Hoffnungen.
Das Glasmacherkollektiv steht im Gebüsch. Im Jahr 1955 wurde die Plastik aus Beton, die einen Glasbläser, einen Techniker und eine Schleiferin zeigt, vor dem Portal der Glasfachschule in Weißwasser aufgestellt, die später Ingenieurschule wurde – und seit 2009 leer steht. Die Glasbranche, die in der Stadt in der Lausitz einst 5000 Arbeitsplätze bot, hatte das Ende der DDR nicht überlebt. Also wurde auch keine Ausbildungsstätte mehr gebraucht. Sie wurde zum Sinnbild eines Strukturbruchs; in ihrem Park verschwand die Kunst im Dickicht.
Eine Ironie der Geschichte ist, dass ein erneuter Strukturbruch jetzt dafür sorgen könnte, dass die frühere Schule wieder mit Leben gefüllt wird. Deutschland will aus der Braunkohle aussteigen, die in der Lausitz derzeit die wichtigste Branche ist: Im sächsischen Kreis Görlitz, zu dem Weißwasser gehört, entfallen 16,2 Prozent der Wertschöpfung auf den Energiesektor. Um den Ausstieg abzufedern, hat eine vom Bund eingesetzte Kohlekommission ein 40 Milliarden Euro teures Paket von Ausgleichsmaßnahmen geschnürt. Sie füllen lange Listen in ihrem Ende Januar beschlossenen Abschlussbericht. Projekt 122 betrifft die Glasfachschule. Sie könne saniert und zum »Standort für Verwaltung und Bildung/Forschung und Entwicklung« werden.
Torsten Pötzsch, der Oberbürgermeister, hat das erfreut zur Kenntnis genommen. Zöge tatsächlich eine Behörde oder ein Institut in die Gebäude, »könnte das durchaus bis zu 500 Arbeitsplätze bringen«, sagt er. Die Beschäftigten könnten auch von außerhalb mit dem Zug kommen. Projekt 74 auf der Liste ist die Sanierung des Bahnhofs Weißwasser samt Umbau zu Touristeninformation, Ärztestandort und Begegnungsort. Halten könnten dort künftig sogar ICE-Züge. Die Kommission rät, die über Weißwasser führende Bahntrasse von Berlin nach Görlitz so auszubauen, dass sie »ICE-tauglich« wird.
Bisher, das weiß Pötzsch, handelt es sich freilich um eine Auflistung der Wünsche, die aus den Kohlerevieren übermittelt wurden. Viele davon hat ein Gremium namens »Lausitzrunde« formuliert, dem 50 Städte und Gemeinden aus Sachsen und Südbrandenburg angehören und dessen sächsischer Sprecher er ist. Nun solle flott entschieden werden, welche der Projekte wann angegangen werden: »Es muss schnell klar sein, was in einem, in fünf oder erst in zehn Jahren passiert«, sagt Pötzsch. Bei Treffen in der Dresdner Staatskanzlei, die jetzt fast im Wochentakt stattfinden, macht er Druck: »Die Leute im Revier müssen schnell greifbare Ergebnisse sehen.«
In der Lausitz haben nicht wenige Angst, dass das Ende der Kohle Härten bringen könnte wie die Umbrüche ab 1990. Damals gingen rund um Weißwasser schon einmal Tausende Jobs in Kraftwerken und Kohlegruben verloren; Glasfabriken schlossen; die in der Region zuvor sehr präsente Armee löste sich auf. Große Ansiedlungen hat es in der ostsächsischen Region, die auf Straße und Schiene schlecht zu erreichen ist, seither nicht gegeben. Folge war ein regelrechter Exodus. Weißwassers Einwohnerzahl sank seit den späten 1980er Jahren von 38 000 auf unter 17 000. Das hinterließ Spuren in den Köpfen der Dagebliebenen. Eine Kennerin der Region spricht von »mentaler Schwermut«, die sich breitgemacht habe.
Der Politik ist klar, dass der Ausstieg aus der Kohle anders ablaufen muss, soll der soziale Frieden nicht endgültig aufs Spiel gesetzt werden. Ein erneuter Strukturbruch sowie soziale und demografische Verwerfungen seien »dringend zu vermeiden«, heißt es im Kommissionsbericht; die Menschen in den Revieren erwarteten »völlig zu Recht die Solidarität von Gesellschaft und Politik«. Pötzsch sieht das genauso. »Die Vergangenheit ist ein starker Antrieb«, sagt der Rathauschef. »Man kann nicht wieder alles dem Selbstlauf überlassen.«
Derzeit, so schätzt Pötzsch, hingen in seiner Stadt noch 1000 Menschen sowie deren Familien von Jobs beim Kohleförderer LEAG oder dessen Zulieferern ab. An größeren Arbeitgebern gibt es daneben ein letztes Glaswerk mit 350 Mitarbeitern – und das Krankenhaus. Ansonsten besteht die örtliche Wirtschaft aus Klein- und Kleinstbetrieben. Mancher fordere, das Ende der Kohle mit einer Großansiedlung zu kompensieren, etwa einer Batteriefabrik für die Automobilbranche. Pötzsch hielte es für sinnvoller, den örtlichen Mittelstand so zu unterstützen, dass er 10 oder 15 Prozent mehr Jobs schafft – etwa, indem man ihn mit Forschungskapazitäten oder beim Beantragen von Fördermitteln unterstützt. Solche Arbeitsplätze seien zwar womöglich nicht so gut bezahlt; es bestehe aber auch nicht die Gefahr, dass sie – so wie vie- le Jobs in der Solarbranche – auf einen Schlag wieder verschwänden.
Der Stadtkasse von Weißwasser kann der Kohleausstieg nicht mehr viel Schaden zufügen – sie ist ohnehin chronisch leer. Einst flossen in der Region die Gewerbesteuern üppig. Doch weil der Kohleförderer zuletzt wiederholt Verluste schrieb, forderte er bereits gezahlte Beträge in Millionenhöhe zurück. Die Kommunen erhalten nur einen Teil vom Land erstattet. Die Folge: »Wir kriegen unseren Haushalt nicht mehr klar«, sagt Pötzsch, »und um Fördermittel zu beantragen, fehlen uns Eigenmittel.« Im Stadtrat stehen Tierpark, Freibad und Schwimmhalle zur Disposition. »Man spart sich kaputt«, sagt Pötzsch – und verliert eine Infrastruktur, die für die Zukunft der Stadt wichtig wäre.
Die wäre dringend auf Zuzug angewiesen, soll die Einwohnerzahl nicht weiter in den Keller gehen. Die demografische Entwicklung gibt An- lass zur Sorge. 2035 wird der Anteil der über 60-Jährigen in der Lausitz bei 45 Prozent liegen, neun Punkte über dem Bundesdurchschnitt. Die Jüngeren fehlen schon jetzt: Bei einer Arbeitslosenrate von nur noch 8,3 Prozent herrscht in Weißwasser Fachkräftemangel. Um ihn zu beheben, veranstaltet die Stadt seit 2017 »Rückkehrerbörsen«. Etliche Besucher hätten seither Arbeitsverträge im Ort unterschrieben, so Pötzsch: »Manche wollen zurück zur Familie, andere vergleichen Lebenshaltungskosten in Hamburg und in der Lausitz.« Der Zuzug hat Folgen; Plätze in den Kindergärten werden inzwischen knapp.
Der warme Geldregen, der mit dem Kohleausstieg verbunden ist, könnte nun helfen, die Stadt für Rückkehrer und Zuzügler herauszuputzen, wie sie es aus eigener Kraft nicht könnte. Das Projekt 141 auf der Liste möglicher Vorhaben betrifft beispielsweise das soziokulturelle Zentrum TELUX, das in Weißwasser in einem alten Fabrikgebäude entstanden ist und sich hinter ähnlichen Lokalitäten in Leipzig oder Berlin nicht verstecken muss. Der Unterschied zu den Metropolen ist, dass die umliegende Stadt noch nicht fertig saniert ist. Pötzsch spricht von Weißwasser als »Möglichkeitsraum« – Devise: »Hier geht noch was.«
Was für die Stadt selbst mit dem Kohleausstieg geht, bleibt abzuwarten. Fakt ist: Es wird viel Arbeit geben – Arbeit, für die es im Rathaus bisher nur eine halbe Stelle in der Wirtschaftsförderung gibt. Dass das in Zukunft nicht reicht, davon muss der OB seinen Stadtrat noch überzeugen.