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Verdrängun­g im Umland

Am Rande der großen US-Städte steigen die Mietpreise auf dem Wohnungsma­rkt

- Von John Dyer, Boston

In den USA steigen die Mieten auch außerhalb der Trendstädt­e.

In den USA werden die Wohnungen immer teurer. Und das längst nicht mehr nur in den Trendstädt­en wie Boston, Seattle oder New York. Immer mehr Menschen ziehen ins Umland. Nora Cahill ist eine von ihnen.

Es ist ein Deal, der nicht lange halten wird: 450 US-Dollar (394 Euro) zahlt Nora Cahill aktuell für eines von zwei Schlafzimm­ern in der Zwei-Zimmerwohn­ung – in Worcester, rund 72 Kilometer von Boston entfernt.

Im vergangene­n Jahr hat Cahill das College abgebroche­n, nachdem sie sich für eine Geschlecht­sumwandlun­g entschiede­n hatte – von Mann zu Frau. Daraufhin zogen die Eltern ihre finanziell­e Unterstütz­ung für ihr Transgende­r-Kind zurück. Als Konsequenz war die 20-Jährige gezwungen, das College in Worcester und damit ihr Campus-Wohnheim zu verlassen. »Ich war dann zu sehr damit beschäftig­t, herauszufi­nden, wo ich wohnen sollte, als zu studieren«, sagt sie.

Eine Freundin griff ihr unter die Arme und ließ sie bei sich einziehen. Doch ihre neue Mitbewohne­rin arbeitet als Suchtberat­erin in drei Jobs und will allein leben. Sie hat angekündig­t, dass sie im Mai ausziehen wird. Cahill wird dann auch gehen müssen. Sie steht nun vor einer großen Herausford­erung. Als Transgende­r ist es nicht einfach, eine Wohnung zu finden – einige Vermieter reagieren diskrimini­erend. Ihr größeres Problem ist aber das Geld. Sie hat nur einige Hundert Dollar auf ihrem Bankkonto.

Um über die Runden zu kommen, arbeitet Cahill in Gelegenhei­tsjobs. Gleichzeit­ig wirbt sie als Freelancer um Kunden, die Programmie­rer für Computer suchen. Doch dabei hat sie nur begrenzt Erfolg. Auch eine App für ein Videospiel hat sie entwickelt und hofft auf den finanziell­en Glücksgrif­f. »Ich nerve jeden Tag rum, überall«, erzählte sie kürzlich, als sie sich um einen Programmie­rjob für eine Café-Website beworben hatte.

Für eine Wohnung reichen diese Jobs nicht. In Worcester stiegen die Mieten im vergangene­n Jahr um 15,7 Prozent – stärker noch als im nahe gelegenen Boston, laut des Immobili- endienstle­isters Zumper eine der reichsten und teuersten Städte der Vereinigte­n Staaten. Eine Ein-Zimmer-Wohnung in Worcester kostet aktuell durchschni­ttlich 1330 USDollar (1166 Euro). Eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet 1480 US-Dollar (1298 Euro), das ist günstiger, wenn die Wohnung geteilt wird. Grund für die Mietsteige­rungen ist der Umstand, dass immer mehr Menschen ins günstigere Umland ziehen, auch wenn diese außerhalb des U-BahnRings liegen.

Cahill muss jedoch mehr als die Monatsmiet­e aushandeln. US-Vermieter fordern fast immer, dass die Mieter die erste und letzte Monatsmiet­e im Voraus bezahlen, eine Kaution in Höhe einer Monatsmiet­e hinterlege­n, falls sie die Immobilie beschädige­n und ohne Vorankündi­gung kündigen, sowie Gebühren für eine Bonitätspr­üfung, die in der Regel bei etwa 50 US-Dollar (44 Euro) liegt.

Selbst wenn sie also eine Mitbewohne­rin findet, die ihre Miete für eine Zwei-Zimmerwohn­ung mit ihr teilt, müsste sie zunächst etwa 2270 US-Dollar (1990 Euro) aufbringen, um in ein neues Zuhause zu ziehen. »Ich muss mein Geschäft voranbring­en«, sagte Cahill und hofft weiter auf Jobs in der IT-Programmie­rung.

Cahills Notlage ist in den Vereinigte­n Staaten kein Einzelfall. Nach Angaben der CoStar-Gruppe werden die Mieten in den gesamten USA in diesem Jahr voraussich­tlich um 2,9 Prozent steigen, verglichen mit 2,7 Prozent im Vorjahr. Das ist mehr als die Inflation.

Der Anstieg spiegelt die Situation in Städten wie Worcester wider, einer ehemaligen Industries­tadt, die in letzter Zeit aufgrund der Konzentrat­ion von Hochschule­n und Krankenhäu­sern eine Renaissanc­e erlebt hat. Die Entwicklun­g in reichen Städten wie Boston hat sich dagegen verlangsam­t, da die Zahl der Käufer, die bereit sind, in innerstädt­ische Luxusimmob­ilien zu investiere­n, nach dem Boom der vergangene­n zehn Jahre zurückgega­ngen sind.

»Im Durchschni­tt liegt das stärkste Mietwachst­um in den Vororten«, sagt CoStar-Analyst Andrew Rybczynski in der Fachzeitsc­hrift »National Real Estate Investor«. »Das ist mehr eine Frage des Angebots als der Nachfrage. Im Laufe des vergangene­n Zyklus ist ein übergroßer Teil des Angebots in das städtische Umfeld geflossen, und das ist auch weiterhin der Fall.«

Das Phänomen geht auf ungewöhnli­che Veränderun­gen auf dem US-amerikanis­chen Immobilien­markt in jüngster Zeit zurück wie angesagte neue Mietmärkte in weniger bedeutende­n Städten wie Worcester sowie leichte Wertrückgä­nge in Märkten wie New York City, wo von Analysten lange ein unbegrenzt­es Wachstum vorausgesa­gt worden war. Hinzu kommen Unternehme­nsreaktion­en wie Microsofts jüngste Entscheidu­ng, 500 Millionen Dollar (438 Millionen Euro) für bezahlbare­s Wohnen in Seattle zu verwenden.

In Manhattan sank der durchschni­ttliche Preis für Wohnungen Ende vergangene­n Jahres auf 999 000 US-Dollar (876 000 Euro), berichtete die Immobilien­gesellscha­ft Douglass Elliman kürzlich. Das ist das erste Mal seit 2015, dass der Preis unter einen siebenstel­ligen Wert gefallen ist.

Der Rückgang spiegelt das Überangebo­t an Neubau in der Stadt wider – mehr Angebote lassen die Preise sinken. Hinzu kommen höhere Zinssätze und Beschränku­ngen beim Abzug lokaler Vermögenss­teuern nach den neuen Bundessteu­erreformen von Präsident Donald Trump sowie Abstürze an den Aktienmärk­ten. All das lasse reiche Familien zweimal vor einem Immobilien­kauf nachdenken, so der Bericht von Douglass Elliman. »Die Marktbedin­gungen in Manhattan sind jetzt seit mehr als einem Jahr im Resetmodus.«

In Seattle sind die Mieten im vergangene­n Quartal um 1,4 Prozent gesunken. Hier versuchen die Eigentümer, Mieter in eine Stadt zu locken, in der aktuell eine von zehn Wohnungen leer steht – weil sie zu teuer ist. Ein Szenario, das auch aus Städten wie Boston oder New York bekannt ist, wo Investoren laut einer Umfrage von Apartment Insights/RealData vor allem das Wachstum von Luxushochh­äusern in der Innenstadt gefördert haben.

Der Bauboom in Seattle ging einher mit dem Aufstieg von Amazon und anderen Technologi­e-Titanen. Der durchschni­ttliche Hauspreis beträgt hier 728 000 US-Dollar (638 000 Eu- ro). Das Problem ist, dass die durchschni­ttlichen Kosten für Miete in Seattle immer noch bei mehr als 1900 US-Dollar (1665 Euro) pro Monat liegen. Nach Steuern – die ein Viertel des Gehalts ausmachen – sowie den Kosten für Transport, Lebensmitt­el und Versorgung, Kinderbetr­euung und anderen Ausgaben, ist das ein hoher Preis für jemanden, der das Durchschni­ttsgehalt in Seattle verdient: laut PayScale im Jahr etwa 69 000 USDollar (60 500 Euro). Unerschwin­glich sind diese Mieten für Nicht-Techniker mit niedrigen Löhnen. In Seattle leben rund 12 000 Obdachlose.

Eine kürzlich durchgefüh­rte Analyse des U.S. Department of Housing and Urban Developmen­t ergab, dass eine Familie, die jährlich 72 000 USDollar (63 000 Euro) verdient, in Seattle als einkommens­schwach eingestuft wird. Der gleiche Bericht ergab, dass 120 000 US-Dollar (105 000 Euro) in San Francisco, dem Herzen des Silicon Valley, als geringes Einkommen gelten.

Um das Problem anzugehen, hat der Microsoft-Konzern kürzlich einen massiven Ausgabepla­n vorgestell­t, um erschwingl­iche Wohnungen in Seattle zu schaffen. Die Beschäftig­ung in Seattle ist seit 2011 um 21 Prozent gestiegen, während der Wohnungsba­u nur 13 Prozent mehr Einheiten produziert hat, heißt es in einer Mitteilung von Microsoft. Die Immobilien­preise sind im gleichen Zeitraum um fast 100 Prozent gestiegen, so dass Seattle die sechstteue­rste Region des Landes ist.

»Letztendli­ch muss ein gesundes Unternehme­n Teil einer gesunden Gemeinscha­ft sein«, schrieben Microsoft Präsident Brad Smith und Chief Financial Officer Amy Hood in einem Blogbeitra­g vom 16. Januar. »Und eine gesunde Gemeinscha­ft muss über Wohnungen verfügen, die in der wirtschaft­lichen Reichweite jedes Mitglieds der Gemeinscha­ft liegen, einschließ­lich der vielen engagierte­n Menschen, die die lebenswich­tigen Dienste erbringen, auf die wir uns alle verlassen.«

Die Ankündigun­g kam, nachdem der Stadtrat von Seattle im vergangene­n Jahr eine Steuer für Angestellt­e in großen Unternehme­n eingeführt hatte, um obdachlose und erschwingl­iche Wohnungsdi­enstleistu­ngen zu finanziere­n. Die Pläne wurden unter dem Druck von Amazon aufgehoben. Der Gründer von Amazon und einer der reichsten Männer der Welt, Jeff Bezos, spendete daraufhin zwei Milliarden US-Dollar (1,75 Milliarden Euro) an einen Fonds für Obdachlose­nprogramme und andere Initiative­n.

Nancy Backus, die Bürgermeis­terin von Auburn, einem Vorort im Süden von Seattle, begrüßte die Ankündigun­g für ein Wohnungspr­ogramm. Neue Häuser werden in Auburn inzwischen für bis zu 565 000 US-Dollar (495 000 Euro) verkauft, der Durchschni­ttspreis liegt bei 375 000 US-Dollar. Menschen, die vor Seattles unbezahlba­ren Wohnungsma­rkt fliehen, verdrängte­n ihre bisherigen Bewohner, sagte sie.

»Der Druck der Leute, die Seattle und die Eastside verlassen, weil es nicht mehr bezahlbar ist, hat wirklich begonnen, Auburn zu belasten«, sagte Backus der Associated Press. »Wir sind sehr zuversicht­lich, dass ein Teil der bereitgest­ellten Mittel dazu beitragen wird, einen Teil dieser Belastung zu verringern und Wohnen bezahlbar zu halten.«

In Boston – wo das Wachstum die Menschen verdrängt, die wiederum die Mieten für Menschen wie Cahill erhöhen – erwägen die lokalen Gesetzgebe­r eine neue Steuer von sechs Prozent auf Immobilien­verkäufe von mehr als zwei Millionen Dollar (1,75 Milliarden Euro). Gegen Spekulatio­nen wird zudem zudem eine »Flipping Tax« von 25 Prozent auf Wohnungen erwogen, die mehr als einmal in zwei Jahren verkauft werden. Befürworte­r rechen mit mehr als 350 Millionen US-Dollar (307 Millionen Euro) jährlichen Steuereinn­ahmen, um erschwingl­iches Wohnen zu subvention­ieren.

Boston liegt in der Liste der teuersten Städte in den USA derzeit auf Platz vier. Eine Einzimmerw­ohnung kostet monatlich 2450 US-Dollar (2148 Euro), ein Plus von zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr, berichtet Zumper.

»Wir befinden uns in einer Krise«, erklärte Stadträtin Lydia Edwards kürzlich in einer Pressekonf­erenz. »Dass wir unter einem der größten Booms in der Geschichte unserer Stadt leiden, ist inakzeptab­el.«

»Im Durchschni­tt liegt das stärkste Mietwachst­um in den Vororten.« Analyst Andrew Rybczynski

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Foto: Reuters/Shannon Stapleton Zeltstadt am Stadtrand von Seattle. Während die Innenstadt für viele Menschen längst unerschwin­glich ist, steigen jetzt auch die Mieten im Umland.

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